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Befreiungstheologie in Gefahr

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Aus Anlaß des Gedenkens an „500 Jahre Amerika" findet im Oktober in Santo Domingo, der Hauptstadt der Dominikanischen Republik, die vierte Generalkonferenz der Bischöfe Lateinamerikas statt. Viele befürchten, daß die von den Bischöfen repräsentierte Kirche ihre „Option für die Armen" beiseite schieben und die Befreiungstheologie weiter zurückdrängen wird.

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Aus Anlaß des Gedenkens an „500 Jahre Amerika" findet im Oktober in Santo Domingo, der Hauptstadt der Dominikanischen Republik, die vierte Generalkonferenz der Bischöfe Lateinamerikas statt. Viele befürchten, daß die von den Bischöfen repräsentierte Kirche ihre „Option für die Armen" beiseite schieben und die Befreiungstheologie weiter zurückdrängen wird.

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Die Diskussionen um die bevorstehende lateinamerikanische Bischofsversammlung in Santo Domingo konzentrieren sich auf das Konsultationsdokument für die Konferenz sowie auf die Auswahl der stimmberechtigten Bischöfe. Die Konferenzteilnehmer sind noch nicht offiziell benannt.

Am Vorbereitungstext mit dem Titel „Neue Evangelisierung, menschliche Förderung, christliche Kultur" stimmt vor allem seine Ausrichtung auf das Problem des Säkularismus der modernen Gesellschaft skeptisch. Mit der Konzentration auf die säkularisierte Welt als pastorale Herausforderung wendet sich das Dokument an die Kultur der städtischen Mittel- und Oberschichten Lateinamerikas. Damit wird das Dokument jedoch der in Armut und Elend lebenden Bevölkerungsmehrheit der Länder Lateinamerikas nicht gerecht, kritisieren Vertreter der Befreiungstheologie.

Der historische Standortwechsel der lateinamerikanischen Kirche auf die Seite der Armen, zu dem die beiden vorangegangenen Bischofskonferenzen in Medellin 1968 und in Puebla 1979 entscheidend beigetragen haben, scheint in Frage gestellt. „Die Armen stehen nicht mehr im Mittelpunkt der Pastoral", beklagt der brasilianische Befreiungstheologe Clodo-vis Boff. Diese Befürchtung geht weniger aus dem hervor, was das 190 Seiten umfassende Dokument sagt, als daraus, wovon es nicht spricht.

„Armut" und „Befreiung" - Begriffe, die im Zentrum der Befreiungstheologie und einer „Kirche der Armen" stehen - kommen in keinem Titel und in keiner Zwischenüberschrift vor. Der „vorrangigen Option für die Armen" ist nur ein kurzer Absatz gewidmet. Hier heißt es richtig, die Kirche bezeuge mit ihrer Option für die Armen die unzerstörbare Würde des Menschen. Aber Konkretisierungen undderBezugzum Weg der lateinamerikanischen Kirche der letzten Jahrzehnte fehlen.

Charakteristisch für diesen Weg der Kirche waren bisher die Basisgemeinden, in denen die Armen zu Trägern der Pastoral und der Evangelisierung wurden. Auch hier sieht Clodovis Boff, der Bruder des in Europa bekannteren Leonardo Boff, eine deutliche Akzentverschiebung. Die Gewichtung des Dokumentes lege nahe, daß die „Movimentos" zu den neuen Hauptträgem der Pastoral werden sollten, also apostolische Bewegungen wie Opus Dei, Communione e Libe-razione und die Charismatische Erneuerung. Diese Bewegungen seien überdiözesan organisiert und daher der diözesanen Autorität weitgehend entzogen. Sie würden einer „Reform von oben" Vorschub leisten.

Es bleibt abzuwarten, ob sich die Befürchtungen in den Beschlüssen von Santo Domingo bewahrheiten. Der Präsident des lateinamerikanischen Bischofsrates, Kardinal Nicolas Lopez Rodriguez, wies den Verdacht zurück, die Befreiungstheologie würde in Santo Domingo ausgegrenzt werden.

Ob seine Aussage glaubwürdig ist, wird auch von der Auswahl der stimmberechtigten Konferenzteilnehmer abhängen. In die Auswahl wird der Papst, der auch selbst an der Konferenz teilnehmen wird, wesentlich stärker eingreifen, als dies in Medellin 1968 und in Puebla 1979 der Fall war. So behält sich Rom unter anderem auch die Ernennung der teilnehmenden Fachleute und Laien vor. Nach bisherigen Informationen soll die Kirche Brasiliens mit ihrer starken „Kirche der Armen" deutlich unterrepräsentiert sein.

Marxistisches Fundament?

Die Vorbereitungsarbeiten für Santo Domingo sind ein Indiz dafür, daß die Zeiten für die Befreiungstheologie schwierig geworden sind. Ihre Gegner gewinnen innerhalb der Kirche an Einfluß. Viele von ihnen meinen, die Theologie defBefreiung sei mit dem Scheitern des realen Sozialismus in Osteuropa in eine existentielle Krise geraten. Die italienische katholische Zeitschrift „30 Giorni" verkündete sogar ihr „Ende". Dahinter steht der Vorwurf, die Befreiungstheologie sei nicht wirklich Theologie, sondern bloß eine christliche verbrämte Variante der überholten marxistischen Ideologie. In ihrer kompromißlosen Kritik am kapitalistischen System zeige sich ihr marxistisches Fundament.

„Hinter solchen Angriffen steht entweder Nichtwissen oder die Absicht bewußter Irreführung", erklärt Pater Jakob Mitterhöfer, Generalsekretär der Päpstlichen Missionswerke in Österreich. Seiner Überzeugung nach beansprucht die Befreiungstheologie völlig zu recht, wie jede Theologie in der Kirche, „Rede von Gott" zu sein. „Sie ist Rede von Gott aus der Armut, aus dem Elend heraus." Den eigentlichen Grund für die Angriffe gegen die Befreiungstheologie sieht Mitterhöfer in ihrer entlarvenden Funktion. „Denn sie deckt das Unrecht auf, zeigt die Götzen auf, zu denen die Ideologie vom ,freien Markt' gehört, und sagt, wo der wahre Gott ist."

Als Anzeichen einer „Krise der Befreiungstheologie" sehen viele die Tatsache, daß die lateinamerikanisehen Basisgemeinden -jene Orte, an denen die Befreiungstheologie gelebt wird - in den letzten Jahren kleiner geworden sind. P. Mitterhöfer führt diese Entwicklung auf den starken politischen, ideologischen und kulturellen Druck zurück, der auf die Basisgemeinden ausgeübt wird. „Beispielsweise werden Fernsehgeräte so billig gemacht, daß man sie sich in jeder Hütte leistet. Rund um die Uhr werden die Menschen mit Werbung und Propagada versorgt. Man bringt sie zum Träumen, lullt sie ein." Druck wird auch durch physische Gewalt ausgeübt. „Pausenlos werden Leute aus den Basisgemeinden umgebracht", so Mitterhöfer.

Zu diesem Druck kommt die vielerorts fehlende Rückendeckung von seiten der Amtskirche. „Viele Christen werden verwirrt, wenn sie sogar von Kirchenkreisen hören, daß die Befreiungstheologie keine Fundamente hat und solche Ansichten in den Massenmedien breitgetreten werden. Sie glauben dann, die Befreiungstheologie sei nur noch die Sache von ein paar Unentwegten und Exoten", erläutert Mitterhöfer.

Viele Christen bleiben ihren befreiungstheologisch orientierten Überzeugungen treu, artikulieren sich aber nicht mehr so sehr in Basisgemeinden, sondern schließen sich kirchenunabhängigen Volksorganisationen an. Die politisch oder ökologisch ausgerichteten Volksorganisationen arbeiten für gerechtere Strukturen, das heißt zunächst für Bedingungen, die dem Volk zumindest das Überleben ermöglichen. Die Stärkung der Volksbewegungen sieht P. Mitterhöfer positiv. Diese hätten in Lateinamerika unvergleichlich mehr politisches Gewicht als etwa in Europa. Anderseits entstehe durch die Schwächung der Basisgemeinden ein spirituelles Vakuum, in dem fundamentalistische und charismatische Sekten aus dem an-gloamerikanischen Raum leicht an Terrain gewinnen.

Ein „Versagen" der Befreiungstheologie weisen ihre Vertreter durch die Bank entschieden zurück. Sie sei keineswegs überholt, im Gegenteil. Leonardo Boff betont ihre Aktualität: „Die Befreiungstheologie behandelt die großen Fragen unserer Zeit: Was für eine Weltgesellschaft müssen wir aufbauen, die nicht zu einem zunehmenden Wohlstand auf der einen Seite und zu einer perversen Entmenschlichung auf der anderen Seite führt und die den Respekt und die Ehrfurcht vor der Schöpfung miteinschließt?"

Die Befreiungstheologie weiß sich an die „Zeichen der Zeit" gebunden, konkret an die Lebenswirklichkeit der Armen und ihre Sehnsucht nach Befreiung. Angesichts der Verschärfung von Armut und Elend hält sie es heute nicht mehr für ausreichend, wie bisher die Situation des lateinamerikanischen Volkes durch seine „Depen-denz" (Abhängigkeit) vom Wirtschaftsraum und von der Machtsphäre der nördlichen Industrieländer zu erklären. In ihrer sozialen Analyse spricht sie heute von der „Nichtexi-stenz" des Südens und der Hegemonie des Nordens.

Jakob Mitterhöfer stimmt dieser Deutung zu. „Die .Dritte Welt' ist zur ,Nichtwelt' geworden, ihre Armen wurden zur ,Nichtexistenz' verdammt. Früher hat die nördliche Welt von Entwicklungsdekaden gesprochen und man erklärte zumindest die Absicht, 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes für Entwicklungshilfe auszugeben. Davon ist heute keine Rede mehr. Man preist nur noch die .neue Weltordnung' an, ohne zu sagen, was man darunter versteht." Seit dem „Sieg" des Kapitalismus über den realen Sozialismus brauche der Westen gegenüber dem Süden kein „schönes Gesicht" mehr zu wahren.

Der Arme als „Nichtperson"

Die „Nichtexistenz" des Südens, aber auch die Auseinandersetzung mit Theologien anderer Kontinente hat zu einer vertieften und.zugleich erweiterten Sicht von „Armut" in der Befreiungstheologie Lateinamerikas beigetragen. Armut bedeutet auf vielfältige Weise Tod. Gustavo Gutier-rez, der als „Vater" der Befreiungstheologie gilt, spricht heute vom Armen als „Nichtperson". Er versteht darunter „ein Wesen, dem man den Wert seines Menschseins abspricht, einschließlich all seiner Rechte, angefangen bei dem Recht auf Leben und Freiheit auf den verschiedenen Ebenen".

P. Mitterhöfer glaubt trotz schwieriger Bedingungen nicht an einen Rückzug der Befreiungstheologie. Er sieht sie als eine wirksame Kraft im Aufbruch. „Um die Zukunft der Befreiungstheologie braucht man sich nicht wirklich Sorgen machen, aber um die Menschen im Elend, die immer stärker an den Rand gedrückt werden." Bleibt zu hoffen, daß die Bischöfe in Santo Domingo diese Sorge ernst nehmen.

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