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ÜBER EIN UNBEKANNTES DANTE-MANUSKRIPT

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Kürzlich wurde in Treviso im Gebäude der dortigen Kommunalbibliothek, deren ebenso unermüdlicher wie hilfsbereiter Direktor Dott. Zamprogna ist, eine höchst bedeutsame Entdeckung gemacht. Es handelt sich um ein untadelig erhaltenes Pergamentblatt zirka 22X20 Zentimeter groß, das in der italienischen Buchschrift des 14. Jahrhunderts auf der Vorderseite den Schlußteil des vierten und die Anfangsterzine des fünften Infernogesanges der „Divina Commedia“ enthält, während die Rückseite den gleichen canto quinto fortsetzt.

Das Überraschende daran ist, daß auf beiden Seiten sich nur eine einzige Kolumne befindet, obgleich für die übliche zweite genügend Raum zur Verfügung stünde. Diese Aussparungen waren offenbar für Randbemerkungen bestimmt. Die Vorderseite trägt denn auch einige Glossen, die offensichtlich von verschiedener Hand stammen und wohl auch aus verschiedenen Epochen stammen. Gleich die erste verrät nicht nur durch ihr Latein mit den Sigeln von damals, sondern auch durch ihre ganze Haltung den gebildeten Literaten. Man erkennt sie sogleich als die Handschrift Boccaccios. Wie man weiß, wurde Giovanni Boccaccio als alter, längst bekehrter Mann von der Signorina der Heimatstadt Dantes beauftragt, in der dortigen St.-Stephans-Kirche die „Commedia“ in öffentlichen Vorlesungen zu interpretieren. Eine Tätigkeit, die er nur kurze Zeit ausübte, da er bald aus dieser Welt abberufen wurde. Immerhin, er war sozusagen der erste Dante-Professor der Welt.

Es ist durchaus möglich, daß es sich hier um eines der Blätter handelt, die er für diese Vorlesungen benützte; zumal an dem Rande, der in Betracht kommt, keine Spur einer ehemaligen Bindung zu erkennen ist. — Ebenso möglich ist es, daß Boccaccio, der ein Exemplar der Divina Commedia seinem vertrauten Freunde Petrarca zum Geschenk gemacht hafte, der Dante eher kritisch gegenüberstand, dieses Exemplar nach Petrarcas Tode (1374) stich wieder zurückerbat und wir in dem Trevisaner Fund einen Teil des kostbaren Geschenkes vor uns haben.

Daß das Blatt Dantes Originalmanuskript sei, ist immerhin möglich, nicht aber wahrscheinlich. Leider gibt es von Dante nicht eine einzige verifizierte Zeile, so daß keine Vergleichsmöglichkeit besteht. Die Spur von Wahrscheinlichkeit wäre dadurch gegeben, daß Dantes Sohn Pietro, weitaus bedeutender als sein Bruder Jacopo, ein in Bologna herangebildeter Jurist, und nach der Aufhebung des von Florenz ab seinem 15. Lebensjahre auch über ihn verhängten Verbannungsurteils und der gleichzeitigen Wiedererstattung der konfiszierten Güter ein offenbar sehr vermögender Mann, der lange Jabre hindurch in Verona ein hoher Stadt- und Gerichtsfunktionär war, in Treviso starb. Er war dorthin gezogen, sicherlich nicht mit der Absicht, in Treviso zu bleiben, wohl aber mit dem Gedanken an einen längeren Aufenthalt irt dieser Stadt, da er schwierige Finanzgeschäfte zu erledigen hatte, die ihre Zeit beanspruchten. Es ist keineswegs undenkbar, daß er das Manuskript seines berühmten Vaters mit sich nahm, teils weil er es kommentierte, teils weil es schon damals nicht nur ein Familien-, sondern ein unersetzlicher Nationalschatz war. Unversehens starb Pietro di Dante in Treviso nach mehrwöchigem Aufenthalt 1364. Se. Exc. Car- raro, der Bischof von Verona, hatte die Güte, mich voriges Jahr auf diesen Umstand eigens aufmerksam zu machen.

Nicht undenkbar, daß ihm die in Treviso seit 1318 bestehende Dominikaneruniversität (das heutige Knabenseminar) ein Lektorat angetragen hat. Sein Sarkophag, ursprünglich in Sta. Margherita aufgestellt, später in den Dom überführt, steht heute in einiger Höhe in der linken Seitenwand der Franziskaner- (Minoriten)-Kirche eingemauert. Merkwürdigerweise liegt in der gleichen Kirche Francesca, die Tochter Petrarcas bestattet, die gleichfalls in Treviso starb, so daß die Kinder der beiden größten italienischen Dichter und Denker nur wenige Schritte voneinander entfernt ihre letzte Ruhe gefunden haben.

Sollte sich indessen durch zwingende Gründe — man untersucht noch eifrig — heraussteilen, daß das Trevisaner Pergament in seinem Commedia-Text aus der Feder Dantes stammt, so wäre der Jubel in Italien unermeßlich und der Schatz des Weihnachtsbildes von Correggio über dem ersten linken Seitenaltar der Trevisaner Kirche S. Gaetano, einer ehemaligen Templerkirche, hoah überboten.

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