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Die Meerengen

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Istanbul-Beyoglu, Ende März

Wie schon oft im Laufe der Geschichte stehen jetzt die Meerengen auf der weltpolitischen Tagesordnung. Durch Generationen als einer der markantesten und von großen Geschicken umbrandeten Gegenden der Erde ins Bewußtsein der Völker geprägt, sind sie als „Dardanellen“ ein landläufiger Begriff geworden. In Wirklichkeit werden sie aus drei Teilen gebildet: dem Bosporus — „der Rinderfurt“ —, also den durch einen vulkanischen Erdeinbruch entstandenen Wasserweg und Abflußkanal des Schwarzen Meeres zum Marmarameer, dann aus dem unterhalb Istanbul sich öffnenden Marmarameer, der Propontis der Alten, und drittens durch die Dardanellenstraße selbst, die bei einer Länge von 60 Kilometer und einer Breite von 6 Kilometer bis zu bloß 350 Meter in die Ägäis mündet. Die gesamten Meerengen bilden so einen etwa 360 Kilometer langen Schlauch, der sich dicht vor seinem oberen Ende in Gestalt des Marmarameeres stark erweitert.

Dardanellen, der Hellespont des Altertums! Hier leitete Xerxes seinen Angriff gegen Griechenland ein, hier setzte Alexander der Große, Barbarossa mit den anderen Kreuzfahrern nach Kleinasien über, hier begann im 14. Jahrhundert das erste Eindringen der Türken nach Europa und ihr Festsetzen auf Gallipoli, der langgezogenen Halbinsel zur Seite der Dardanellen, wo sie zum erstenmal europäischen Boden betraten. Und schließlich knüpft sich an den Namen Gallipoli die Erinnerung an die blutigen Dardanellenkämpfe im ersten Weltkriege, in deren Verlauf der junge türkische Oberst Kemal, der spätere „Vater der Türken“, bei Anafarta erstmalig sein Feldherrngenie unter Beweis stellte.

Die Beherrschung der Meerengen, des Ein-und Ausgangstores zum Schwarzen Meer, in das die Hauptschlagader Mitteleuropas, die Donau, mündet, sichert der Türkei seit jeher eine besondere maritime Stellung. Bis 1774 war das Schwarze Meer ein türkisches Mare clausuni, in das es für fremde Schiffahrt keinen Zugang gab. Erst als Rußland die Krim erworben hatte, bekam es als Ufer-staandes Meeres und im Besitz von Hafenstädten das Recht, wenigstens mit Handelsfahrzeugen den Bosporus zu passieren. Im Pariser Frieden von 1856 wurde das Passagerecht für Handelsschiffe aller Nationen gesdiaffen, jedoch allen Kriegsschiffen die Durchfahrt verboten. Nach dem verlorenen Krimkrieg (1853 bis 1856) mußte Rußland nicht nur seine Seefestung Sebasto-pol schleifen, sondern auch das Verbot hinnehmen, Kriegsfahrzeuge im Schwarzen Me'er auch nur zu halten. Während des Deutsch-Französischen Krieges schüttelte Rußland 1871 diese Bindung ab, grundsätzlich aber wurde in den folgenden Jahrzehnten von der Türkei Kriegsschiffen aller Nationen die Durchfahrt verwehrt; schwerarmierte Werke, auch offene Batterien Kruppscher Geschütze gaben diesem Verbot Nachdruck.

Der Zusammenbruch der kaiserlichen Türkdi brachte vorerst eine Regelung der Dardanellenfrage nach englischen Wünschen. Der Vertrag von S h v r e s, 1920, beschränkte die europäische Türkei auf die Umgebung von Konstantinopel und stipu-lierte uneingeschränkte freie Durchfahrt für Kriegs- und Handelsschiffe aller Flaggen in Kriegs- und Friedenszeiten. Die „Meerengenzone“, bestehend aus breiten Uferstreifen beiderseits des Bosporus, des ganzen Marmarameeres sowie den vorgelagerten Inseln der Dardanellen, wurde entmilitarisiert und der türkischen Oberhoheit völlig entzogen. Sie wurde einer exterritorialen und internationalen Kommission unterstellt, von deren 13 Stimmen der Türkei, Rumänien und Bulgarien je eine Stimme zufielen, während Rußland von ihr ausgeschlossen blieb. Der für die Türkei sehr harte Vertrag von

Sevres ist aber nie in Kraft getreten. Er wurde 1923 abgelöst durch den Vertrag von Lausanne, der die Bestimmungen von Sevres wesentlich veränderte. Die neutralisierte Zone wurde, auf einen 15 Kilometer breiten Streifen beiderseits des Bosporus, auf die Inseln des Marmarameeres, auf einen 20 Kilometr tiefen Streifen am asiatischen Ufer der Dardanellen, auf einen schmalen Streifen an deren europäischer Seite beschränkt — umfaßte aber immer noch die Inseln Samothrake, Lemnos, Imbros und Tenedos. Im Gegensatz zu Sevres behielt die Türkei die Verwaltungshoheit in diesem Gebiete. Sie erhielt Bewegungsfreiheit für ihre Kriegs- und Luftflotte, sie durfte Truppen durch die neutrale Zone marschieren lassen und in Konstantinopel eine Garnison von 12.000 Mann unterhalten. Der internationalen Meerengenkommission wurde jede Exekutivgewalt genommen, und sie wurde unter türkischen Vorsitz gestellt. Im Prinzip wurde Freiheit der Durchfahrt für Kriegsund Handelsschiffe stipuliert, mit der Einschränkung, daß neutrale Handelsschiffe im Kriege keine Konterbande führen durften. Bei Kriegsschiffen sollte die Höchststärke der Streitkräfte, die eine Macht ins Schwarze Meer entsenden durfte, jene der stärksten Flotte der dortigen Uferstaaten, also der russischen Flotte ,nicht überschreiten. Die Verantwortung für die Einhaltung dieser auch für den Kriegsfall geltenden Beschränkung traf jedoch nicht die Türkei, sondern die internationale Kommission.

Trotz wesentlicher Lockerungen enthielt auch dieser Vertrag noch erhebliche Einschränkungen der türkischen Souveränität. Als aber der Ausbruch des englisch-italienischen Abessinienkonflikts die Unterschriften der Signatare entwertete, gelang es 1936 der erstarkten Türkei Atatürks, in dem auf

20 Jahre abgeschlossenen Abkommen von Montreux folgende Bestimmungen zu erreichen:

Wiederbefestigung der Meerengen.

Grundsätzliche Durchfahrtsfreiheit für Handelsschiffe auch im Kriegsfall, falls dadurch nicht Kriegsgegner der Türkei unterstützt werden.

Befindet sich die Türkei im Kriege, so kann sie die Engen für Kriegsschiffe sperren, allenfalls schon bei Kriegsgefahr.

Bleibt die Türkei im Kriege neutral, so dürfen neutrale Kriegsschiffe wie in Friedenszeiten passieren. Für die Kriegführenden sind dagegen die Meerengen nur in Ausführung von Völkerbundsaktionen, an denen die Türkei selbst beteiligt ist, geöffnet.

Die Uferstaaten des Schwarzen Meeres, also Rußland, erhalten für Friedenszeiten wesentliche Begünstigungen. Sie dürfen beliebig oft beliebig viele Kriegsschiffe durchlaufen lassen, große Einheiten freilich nur einzeln. Die Nichtuferstaaten dürfen nicht mehr als 15.000 Tonnen, beziehungsweise neun Einheiten durch die Engen senden, und alle zusammen nicht mehr ab 30.000 Tonnen im Schwarzen Meer unterhalten, hievon wieder kein einzelnes Land mehr als zwei Drittel dieses Höchstmaßes. Schließlich dürfen sich alle diese Einheiten nicht mehr als drei Monate im Schwarzen Meer aufhalten.

Das Oberfliegen der befestigten Zonen in den Meerengen ist verboten.

In dem Vertrag war vorgesehen, daß von den Vertragspartnern zehn Jahre nach Unterfertigung des Abkommens, also bis 9. August 1946, die Revision dieses Paktes beantragt werden könnte. Genau am Tage vor dem Ablauf dieser Frist verlangte Rußland, gestützt auf eine Bestimmung des Potsdamer Abkommens, eine Revision mit Erfüllung folgender Forderungen:

1. Dauernde Freiheit der Handelsschiffahrt für alle Länder.

2. Dauernde Freiheit der Durchfahrt für Kriegsschiffe der Schwarze-Meer-Staaten.

3. Sperre der Durchfahrt für Kriegsschiffe der Nichtuferstaaten des Schwarzen Meeres, mit Ausnahme besonderer Fälle.

4. Die Festsetzung des Regimes für die Dardanellen fällt ausschließlich in die Kompetenz der Türkei und der anderen Schwarze-Meer-Mächte, die gemeinsam die Verteidigung gewährleisten.

Der letzteren Forderung sollte die Gewährung von militärischen Basen für Rußland an den Meerengen entsprechen.

Die Einräumung von militärischen russischen Basen in den Meerengen wird von der Türkei strikte abgelehnt. Da die Meerengen an beiden Ufern von türkischem Territorium umgeben sind, erblickt die Türkei in der Errichtung fremder Stützpunkte in den Meerengen einen untragbaren Widerspruch zu der Souveränität des Landes und sogar eine unmittelbare Bedrohung Istanbuls. Regierung und Öffentlichkeit des Landes stehen einmütig auf dem Standpunkt, Grundsatz jeglicher Meerengenregelung müsse es sein, die Unabhängigkeit, Souveränität und Sicherheit der Türkei unangetastet zu lassen. In einer nach Ankara gerichteten Note suchte Moskau diese Besorgnisse zu zerstreuen und empfing daraufhin den türkischen Gegenvorschlag, es sollten die freundschaftlichen Beziehungen, wie sie zwischen beiden Staaten seit dem türkischen Befreiungskampf durch zwei Jahrzehnte bestanden, wiederhergestellt werden; die Türkei sei ihrerseits bereit, mit allen Kräften ein solches Verhältnis zu fördern, einen gleich guten Willen ihres nördlichen Nachbarn voraussetzend.

Aus neueren türkischen Publikationen geht hervor, daß Moskau seinen Wunsch nach Stützpunkten in den Meerengen schon bei Ausbruch des zweiten Weltkrieges, im Herbst 1939, vorgebracht hat, als der damalige türkische Außenminister Schükrü Saradjoglu nach Moskau fuhr, um auf Grund des türkisch-sowjetischen Freundschaftsvertrages gemeinsame kriegsbedingte Schutzmaßnahmen zu besprechen. Saradjoglu lehnte aber eine Diskussion über dieses Thema ab. Im Verlaufe des Krieges wiederholte dann, der türkischen Presse zufolge, die Sowjetunion diesen Wunsch, der sich schließlich mehr und mehr zu einer Forderung verdichtete, die Moskau mit der Argumentierung stützt, daß die Türkei während des letzten Krieges die Meerengenkontrolle zum Schaden der Sowjetunion und zum Vorteil ihrer Gegner, vor allem Deutschlands, gehandhabt habe. Die türkische Presse hält dem — offenbar auf Grund von amtlichen Informationen — entgegen, Mockau habe ja doch im Laufe dieses Krieges durch seinen Botschafter in Ankara der türkischen Regierung wiederholt Dank und Anerkennung für ihre strikte Neutralität und ihre korrekte Handhabung der Meerengenkontrolle ausgesprochen. Der Istanbuler „Tanin“, dessen gute Beziehungen zur Regierung von Ankara bekannt sind, will sogar wissen, die Sowjetregierune habe der Türkei für ihr weiteres „Stillehalten“ im Kriege einen Großteil der damals noch in bulgarisch-deutscher Hand befindlichen bulgarischen Schwarzmeerküste mit dem Hafen von Burgas — ein Gebiet, in dem etwa zwei Millionen Türken wohnen — angeboten; doch habe die Ankaraer Regierung, getreu der Atatürkischen außenpolitischen Linie, keinen neuen Landgewinn anzustreben, ihre Neutralität aus grundsätzlicher Einstellung aufrechterhalten. Der türkische Abgeordnete Nedjmeddin Sadak erinnert in seinem Blatte „Akscham“ daran, daß Großbritannien und die Sowjetunion in einer am 10. August 1941 dem türkischen Außenminister unterbreiteten gemeinsamen schriftlichen Erklärung sich verpflichteten, „die Klauseln des Montreux-Vertrages und die Souveränität sowie die territoriale Integrität der Türkei zu achten“, er folgert daraus, daß diese Abmachung auch über den Krieg hinaus gelte.

Bisher fehlt noch ein ausreichender Vorschlag zur Lösung dieses Gegensatzes. So sehr es verständlich ist, daß die Türkei auf ihrem Staatsgebiet nicht fremde militärische Vorkehrungen zulassen will, ist es andererseits naheliegend, daß Rußland eine Sperrkette an dem einzigen Meereszugang zu seinem Meere, dem Schwarzen Meere, zu haben wünscht. Die Schwierigkeit liegt darin, daß für Rußland keine Kontrolle der Meerengen möglich ist, die nicht auf den türkischen Einwand, „Verb.zung der türkischen Souveränität“, stoßen würde.

Die Moskauer Konferenz wird hier auf eines der stachligsten Probleme der internationalen Aussprache stoßen. Wie scharf umrissen hier die politischen Stellungen sind, zeigte schon vor den

Toren der Moskauer Konferenz die Finanzhilfe der USA für die Türkei, eine wortlose Stellungnahme der großen Weltmacht auch in der Meerengenangelegenheit.

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