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Fleet-Street

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FLEETSTREET. Eine Sehenswürdigkeit in London, der ein Besucher dieser Stadt halb soviel Aufmerksamkeit schenkt, wie dem Buckingham- Palast oder dem Parlament, obwohl von hier aus das englische Volk ebenfalls „regiert" wird. Die Fleetstreet ist die Zeitungsstraße der Millionenstadt, von der täglich Millionen von Blättern in alle Windrichtungen gebracht werden und den lesehungrigen Engländer mit Sensationen, Parlamentsberichten, aktueller Politik. Morden und Gerichtsverhandlungen füttern, ihm mit den neuesten Nachrichten über die „Größen“ unserer Welt zu Tränen rühren.

England ist das Zeitungsland Nr. 1 auf der Welt. Für tausend Einwohner werden täglich 573 Exemplare Tageszeitungen gedruckt. Diese Zahl ist von der UNESCO statistisch belegt. Interessant mag noch der Vergleich mit Schweden,- dem zweiten Zeitungsland, sein, wo für tausend Einwohner 462 Tageszeitungen gedruckt und auch verkauft werden. Erst an dritter Stelle steht das ..Land der unbegrenzten Möglichkeiten“, wo auf tausend Einwohner „nur“ 337 Exemplare kommen.

DIESEN MILLIONENAUFLAGEN hat sich auch das Leben in der Fleetstreet angepaßt. Man spürt förmlich das dumpfe Rollen der Rotationsmaschinen, wenn man am Abend durch dieses Zeitungsdoradö geht. Da steht neben dem modernen Gebäude des „Daily Express“ ein ganz schmales, dreistöckiges Häuschen, in dem ein kleines Blatt für die Provinz hergestellt wird. Die Schreibtische in der Redaktion haben noch die alten Lampen mit den grünen Schirmen, und im ganzen Haus atmet man noch die Luft des vorigen Jahrhunderts.

Beim großen Nachbar nebenan, beim „Daily Express“, der eine Gesamtauflage von mehr als vier Millionen Exemplaren hat, geht es schon etwas lebhafter zu, doch hat man keineswegs das Gefühl, daß die Zeitung im hektischen Tempo der Amerikaner gemacht wird. Neben der sensationellsten Neuigkeit findet der Redakteur Zeit, einen Schluck Tee aus seiner Tasse zu nehmen.

Tag und Nacht herrscht Leben in diesem Haus. Mehr als zwei Millionen Exemplare werden hier gedruckt, etwa eine Million in Glasgow und ebenfalls eine Million in Manchester. Ein weites Netz von Korrespondenten in aller Welt, ein Heer von Reportern, die Nachrichtendienste und Presseaussen- dungen bringen mehr Material auf den Schreibtisch des Redakteurs, als er verwerten kann. Mehr als dreißig Setzmaschinen formen aus Bleiklumpen Buchstaben, und um 21.30 Uhr setzen sich die Rotationsmaschinen zum Druck der ersten Auflage in Bewegung. Bis 2.30 Uhr werden fünf normale Auflagen durch die Walzen gejagt, manchmal sind es sogar sieben oder mehr, je nachdem, was sich auf unserer gesegneten Welt tut.

DAS ZEITUNGSWESEN IN ENGLAND ist sehr alt und geht auf die „Nachrichtenbriefe" zurück, die im 16. Jahrhundert teils mit der Hand geschrieben, teils primitiv gedruckt und an die Abonnenten verteilt wurden. Diese Urform der Zeitung war sehr kostspielig und hatte, da ein Großteil der Bevölkerung ja Analphabeten war, eine kaum nennenswerte Auflage. Fünfzig, hundert — vielleicht zweihundert Exemplare pro Monat.

Erst als 1695 die Freiheit der Presse begründet wurde, begann das Zeitungswesen Formen anzunchmen. Doch die zahlreichen Steuern, die das Verlegen von Blättern sehr kostspielig machten und teilweise erst im 19. Jahrhundert abgeschafft wurden, erwiesen sich wieder als Hemmschuh. Die älteste unter den heute existierenden Zeitungen ist „Berrow’s Worcester

Journal“, das im Jahre 1709 regelmäßig zu erscheinen begann. Daneben gibt es noch rund 60 Provinzzeitungen, die alle vor dem Jahre 1800 gegründet wurden. Die Nationalzeitung, die „Times“, erschien 1785 zum erstenmal und nahm ihren jetzigen

Namen drei Jahre später, an. Die älteste Sonntagszeitung, „The Observer“, hatte 1791 Premiere.

London ist das Zeitungszentrum

Englands. Dreißig Morgen- und drei Abendblätter erscheinen hier. Die weit mehr als 18 Millionen Exemplare, die jeden Tag nach ganz England verschickt werden, bilden eine Macht, um die hinter den Kulissen manche

Kämpfe toben.

Schottland, Nordirland, Wales, die Insel Man und die Kanalinseln haben ihre eigenen Blätter, auf die sie sehr stolz sind.

ZWEI GROSSE ZEITUNGSTRUSTS stehen einander gegenüber, in deren Händen praktisch die finanzielle Macht auf dem Zeitungsmarkt liegt. Da ist einmal die , „Mirror-Gruppe“, deren Hauptblatt der linksgerichtete „Daily Mirror“ ist, der die höchste Auflage aller englischen Zeitungen hat. Der Chef dieses Unternehmens ist Cecil Harmworth King, ein bewährter, dynamischer Zeitungsmann. Er hat Zeitungsblut in den Adern. Er ist der Neffe des 1922 verstorbenen großen Zeitungsmagnaten Lord North- cliffe, der auch „Napoleon der Fleet-

Street“ genannt wurde, die „Daily Mail“ gründete und die „Times“ erwarb. Der Neffe nun hat aus dem „Daily Mirror“ das gemacht, was er heute ist: ein Millionenblatt für die breite Masse.

Obwohl der „Mirror“ schon 1903 gegründet wurde, bestimmten erst die vierziger Jahre sein heutiges Bild. In dieser Zeit fanden nämlich die mit Bildern gespickten, geistig anspruchslosen, sensationslüsternen Tageszeitungen großen Anklang und versprachen ein großes Geschäft. „Daily Mirror“ schaltete auf diesen Kurs um. Der Erfolg heute: eine tägliche Auflage von über sechs Millionen!

Die „Mirror Gruppe“ kaufte im Dezember 195 8 die „Algamated Press“ auf, einen Konzern, der etwa fünfzig Zeitschriften umfaßt. Zu diesem Kon-

zem gehören die auf das in Großbritannien völlig unfehlbare Erfolgsrezept „Sensation und Sex" eingestellte „Reveille“ sowie populäre Frauenzeitschriften, wie „Woman’s Weekly“, „Woman’s Illustrated“, die alle von fast einer bis etwa zwei Millionen Auflage haben, sowie vierzehn „Comics“, das sind geistig völlig anspruchslose Zeitschriften mit gezeichneten Sensationsgeschichten für die

Jugend von insgesamt drei Millionen Auflage.

DIE ZWEITE MACHT im Zeitungsleben ist die Gruppe „Odhams“, die vor gar nicht langer Zeit auch die Gruppe „George Newnes“ übernommen hat, die eine Zeitlang als dritte Macht fungierte. „Odhams“ besteht nun aus dem sozialistischen „Daily Herald“ mit eineinhalb Millionen Auflage und der unabhängigen Sonntagszeitung „People“ mit mehr als fünf Millionen, der Frauenzeitschrift „Woman“, drei Millionen Auflage, der billigeren Neugründung „Woman’s Realm“ (eineinhalb Millionen), „Woman’s Own“ mit etwa zweieinhalb Millionen Auflage und einer ganzen Reihe anderer Zeitschriften, Comics und Frauenblättern, die zusammen eine Auflage von mehr als fünf Millionen haben. +

EIN DRITTER MACHTHABER im Pressewesen ist das „enfant terrible“ Lord Beaverbrook, der im Mai 82 Jahre alt wird und trotz des hohen Alters noch sein „Reich“ regiert. Ihm gehört der „Daily Express“, die zweitgrößte Tageszeitung in England, die im Jahre 1900 gegründet wurde, und der „Sunday Express“. Die Tageszeitung hat eine Auflage von mehr als vier Millionen Exemplaren, vom Sonntagsblatt werden gut dreieinhalb Millionen Stück verkauft. Lord Beaverbrook kann sich erfreut die Hände reiben, denn seine Blätter verfolgen eine steigende Tendenz, und der Marktwert wird heute auf mehr als 500 Millionen Schilling geschätzt.

Obwohl der Zeitungsmann einen so gewaltigen Erfolg auf dem Pressesektor erzielt hat, erreicht er doch nicht das, was er eigentlich vor Augen hatte.

Sein Name ist Max Aitken, und er entstammt einer gar nicht adeligen Pastoreftfamilie aus dem kanadischen Hinterland. Eines Tages beschloß er, Geld zu machen, und von seinem Beschluß bis zur ersten verdienten Dollarmillion dauerte es fünf Jahre. Es gab wütende Angriffe der Presse auf ihn, und die älteren Finanzleute haßten ihn wie die Pest. Schließlich lieiß er alle seine Unternehmungen in Kanada fallen, verkaufte sie und ging mit dem Erlös von einer Million Pfund Sterling 1910 nach England. Er schloß sich einer Gruppe führender Politiker an, die ihn als Mittelsmann in ihren persönlichen Machtkämpfen benützten. 1916 war er der enge Vertraute des Konservativenführers Bonar Law, eines der Männer, die Lord George zum Ministerpräsidenten machten. Er setzte durch, daß er gegen den Widerstand König Georgs V. geadelt wurde, und zog 1918 als Lord Beaverbrook ins Oberhaus ein. Zu der Zeit kaufte er den „Daily Express", der damals eine Auflage von knapp einer Viertelmillion hatte, um einen Pappenstiel, und hoffte, als Presselord im Stil von Northcliffe die Zeitung als politischen Machthelfer zu benützen.

Lord Beaverbrooks Absichten mißlangen, als er 1924 seinen Feldzug für den Empirefreihandel begann. Anfang der dreißiger Jahre wurde er von Ministerpräsident Baldwin schwer angegriffen, der von „direkter Fälschung, Unterdrückung und Halbwahrheiten, persönlicher Macht ohne Verantwortung“ sprach, kurzum, Lord Beaverbrook zusammenstauchte. Das war aber auch der Beginn des Niederganges der britischen Massenpresse, wie Historiker glauben. Nicht, was die Auflagenzahl betrifft, sondern die politische Macht.

Knapp vor dem Krieg und während der Kriegsjahre machte Lord Beaverbrook einige politische Fehlspekulationen, drehte sich nach der gerade günstigen politischen Richtung und hatte immer das Ziel vor Augen, Ministerpräsident zu werden. Er wurde es aber nicht.

Noch heute ist Lord Beaverbrook politisch sehr aktiv. Er tritt für die Verständigung mit Rußland ein.

DIESE DREI GRUPPEN kann man wohl als die mächtigsten bezeichnen. Daneben gibt es aber noch eine Reihe anderer, ebenfalls einflußreicher Trusts, die den Markt des Massenkonsums und der Millionenauflagen beherrschen. „Illustrated London News“, „Sphere“, „Tatler“ — und wie sie heißen mögen, gehören einer anderen Welt an, da ihre Auflage nicht nach Millionen, sondern nach Zehntausenden gezählt werden, und sie sich nicht von dem geistlosen Trubel der Nachkriegszeit haben mittreiben lassen.

Der harte Kampf, der zwischen den Trusts tobt, geht um Inserate. Heute ist eine dieser Zeitungen nur für den Inserenten interessant, wenn sie eine Auflage von mindestens eineinhalb Millionen hat. Und gerade in den Inseraten liegt — wie überall — die Verdienstmöglichkeit. Nur ein Beispiel : Mehr als die Hälfte der Frauen kauft heute die ,,Odhams"-Frauenzeit- schriften. Die Inserenten drängen sich — und legen gern etwa eine halbe Million Schilling für eine farbige Seite Reklame auf den Tisch. Und diese halbe Million ist es, um die gekämpft wird.

Doch das alles geht hinter den Fassaden vor sich. Die Fleetstreet hat trotz der Machtkämpfe zwischen den Zeitungstrusts nichts von ihrer Romantik verloren. Man findet in den „pubs" die Redakteure und Reporter bei ihrem Bier, gar nicht journalistische Fragen erörternd, hört aus einem Eck das Geklapper einer Schreibmaschine, auf der gerade ein Reporter seinen Bericht tippt und dazu ein Sandwich verspeist — und findet eben jene Atmosphäre der Zeitungswelt, die langsam zu verschwinden droht.

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