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In der Nacht zum 29.

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Dies ist der Schwanengesang eines bedeutenden katholischen Schriftstellers und Journalisten: Hermann Mailler ist vor wenigen Tagen, am 29. November, als er sich eben zu seiner Arbeitsstätte begeben wollte, einem Herzschlag erlegen. Die „Furche“.

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Dies ist der Schwanengesang eines bedeutenden katholischen Schriftstellers und Journalisten: Hermann Mailler ist vor wenigen Tagen, am 29. November, als er sich eben zu seiner Arbeitsstätte begeben wollte, einem Herzschlag erlegen. Die „Furche“.

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Der Winter 1929 war einer der strengsten dieses Jahrhunderts. In der Nacht zum 29. Jänner peitschte ein eisiger Schneesturm über die Dächer von Wien und verwandelte die Großstadt in eine Polarlandschaft. In den Hauptstraßen kämpften die Schneepflüge vergeblich um benutzbare Fahrbahnen, in den Nebengassen türmten sich hohe Schneewächten zu schier unüberwindlichen Hindernissen.

In der Bandgasse stand in jener Nacht eine Kolonne von Monosdreirädern. Sie warteten darauf, die erste Nummer des „Kleinen Volksblattes“ zu expedieren," die im Hause Nr. 28 in hochgradigem Premierenfieber hergestellt wurde. Die Elemente schienen sich verschworen zu haben, um das Erscheinen des neuen Blattes zu verhindern. Die Motoren der Dreiräder erstarrten in Eis, und der Sturm spielte sich damit, die Verladekästen mit Schnee zu füllen. Wenn eines der Fahrzeuge wirklich in Bewegung gesetzt werden konnte, dann blieb es an der nächsten Ecke stecken oder glitt auf einer Eisbahn lenkunfähig hin und her.

Das Ergebnis war darnach: alle Züge und Anschlüsse versäumt, die gesamte Auflage für die Bundesländer blieb liegen und selbst in Wien erhielten nur die Trafiken der inneren Bezirke ihre Exemplare noch vor dem frühen Ladenschluß am Sonntagmorgen.

Kaum eine andere Tageszeitung hätte einen so unglücklichen Start überstanden. Wenn das „Kleine Volksblatt“ trotzdem nicht aus dem Rennen geworfen wurde, so deshalb, weil es wie kaum vorher ein Blatt von großen Teilen des Volkes gewünscht und erwartet wurde. Mit den Mitteln dieses Volkes wurde die „Albrecht Dürer Druckerei-Ges. m. b. H.“, eine Tochtergesellschaft des „Herold", gegründet und in der Bandgasse eine Druckerei eingerichtet. Wir hatten hier also den seltenen Fall zu verzeichnen. daß eine Tageszeitung sich nicht ihre Leser suchen mußte, sondern die Leser sich ein Blatt nach ihrem Willen gründeten.

Die Redaktion des „Kleinen Volksblattes" war vor keine leichte Aufgabe gestellt. An irgendein Vorbild konnte sie sich nicht halten. Durch eine fast übermächtige Konkurrenz war ihr überdies nicht nur das Arbeitsfeld, sondern auch der Inhalt des Blattes weitestgehend vorgeschrieben. Die Grenzen des noch Erlaubten — insbesondere in der Lokal-, Gerichtssaal- und Kriminalberichterstattung — waren vielfach schwierig abzustecken, um den Charakter einer katholischen Zeitung nicht aufs Spiel zu setzen. Anderseits erforderte aber auch die positive Tendenzgebung viel Fingerspitzengefühl, um den Wirkungsradius des Blattes nicht zu beengen.

Für die Mittel, mit denen das „Kleine Volksblatt" arbeitete, war seine Einführungspropaganda bezeichnend, die unter dem volkstüm lichen Schlagwort „Ein Schaffel Geld“ den Lesern viel Kopfzerbrechen bereitete. In Gegenwart eines Notars wurde ein Schaff bis zum Rand mit klingender Münze gefüllt, mit einer Glasplatte versehen und versiegelt. Das wertvolle Gebinde wurde sodann in allen Wiener Bezirken und in den größeren Orten Niederösterreichs zur Schau gestellt. Aufgabe der Leser war es, zu erraten, welche Summe Geldes in dem Schaff enthalten sei. Wer sie angeben konnte oder ihr am nächsten kam, sollte das Schaff samt seinem Inhalt erhalten. Diese originelle Aktion rief alle Rechenkünstler und Schlaumeier auf den Plan. Das Glück, das auch der Veranstalter eines Preisausschreibens haben muß, soll die erhoffte Propagandawirkung erzielt werden, war dem „Kleinen Volksblatt“ hold: das Schaff Geld fiel einem kleinen Eisenbahnangestellten zu, der mit seiner Familie in einer Baracke für Obdachlose hauste, so daß mit der Preiszuerkennung auch jene Tausende zufrieden waren, die nicht zum Zug gekommen waren.

Als Stamm- und Hausfiguren hatte sich das „Kleine Volksblatt" „Herrn Pick und Frau Zwick" zugelegt, zwei als Hausbesorgerehepaar verkleidete Spatzen, die Tag für Tag die Tagesereignisse in einem kecken Witz glossierten. Daß sie bald, in Bronze gegossen, Aschenbecher zierten und als Masken auf Bällen auftauchten, zeugte von ihrer Volkstümlichkeit. Ernsterer Betrachtung war die tägliche Rubrik „ und was sagst du?“ gewidmet, in der ein aktuelles politisches oder weltanschauliches Thema in einer halben Druckspalte kurz und bündig behandelt wurde. Unter dem Pseudonym „Sigismund“ sprach hier der heutige Generaldirektor der Ravag, Dr. Sigmund Guggenberger, zu den Lesern und ihnen sehr oft aus dem Herzen. Als erste Tageszeitung Oesterreichs hat das „Kleine Volksblatt" auch jeden Sonntag eine ganze Seite für die Kinder eingeführt, deren erklärter Liebling der „Bumster-Nazi“ wurde, ein drolliges Stehaufmanderl vom Kalvarienberg, das die tollsten Abenteuer erlebte und mit Scherz und Schabernack letzten Endes doch erzieherisch wirkte. Das „Kleine Volksblatt“ wagte sich sogar auf die heiklen Gebiete der Eheberatung und der Eheanbahnung. Die gleichzeitige Hochzeit von zehn Brautpaaren, zu der nach Polizeischätzung 100.000 Wiener nach Grinzing pilger- ten, ließ auch-diese Arbeit nicht erfolglos erscheinen. Wahre Volksfeste waren schließlich seine jährlichen Firmungsaktionen, die jeweils hundert und mehr bedürftigen Kindern den Empfang des Sakramentes ermöglichten. Unter den ersten Firmpaten, hervorragenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, befand sich auch Kardinal Innitzer, dazumal Sozialminister im Fachmännerkabinett Schobers.

Daß das erste Erscheinen des „Kleinen Volksblattes“ von kalten Winterorkanen umtobt war, war symbolisch für sein weiteres Schicksal. Die junge Zeitung geriet bald in unruhige, von weltgeschichtlichen Umbrüchen erfüllte Zeiten hinein, deren Stürme den einstigen Wiener Blätterwald arg entlaubt haben. Von den vier kleinformatigen Organen erscheint heute nur noch das „Kleine Volksblatt" als Tageszeitung, wenn auch unter wesentlich anderen Voraussetzungen und modifizierten Aufgaben. Immerhin darf man aus der Tatsache, daß es seine drei alteingeführten Konkurrenten überlebte, darauf schließen, wie sehr das Blatt mit dem Wiener Volk zu verwachsen vermochte.

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