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Leid und Grofe Pius5 IX.

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Vor hundert Jahren, im Juni 1846, bestieg Pius IX. den päpstlichen Thron.

Das Konklave, das zur Wahl eines Nachfolgers für den verstorbenen Papst Gregor XVI. zusammengetreten war, dauerte nur 36 Stunden. Man schrieb das Jahr 1846. Selbst die größten Optimisten unter den Anhängern des konservativen Europa ahnten, daß der Ausbruch des Vulkans, auf dem die Menschheit seit Jahrzehnten geschlafen hatte, unmittelbar bevorstand.

Die Kirche mußte von diesem Ausbruch zutiefst erschüttert werden. Sie hatte durch das Bündnis von „Thron und Altar“ die konservativen Kräfte gestützt und sich dabei bei allen „freien“ Geistern in den Geruch der „Reaktion“ gebracht. Ihre Angriffe richteten sich besonders auch gegen sie. Der neue Papst stand vor der Aufgabe, die Kirche durch die kommenden Erschütterungen hindurchzusteuern.

Im ersten Wahlgang erlangte der frühere Staatssekretär Gregor XVI., Kardinal Lam-bruschini, die meisten Stinjmen. Er war ein Anhänger des Systems Gregor XVI. gewesen, das diesem den Namen eines „Papstes der Reaktion“ eingetragen hatte.

Der sechzehnte Gregor, vor seiner Wahl Mönch', war auch als Papst dem Geiste nach Mönch geblieben. Er regierte seinen Kirchenstaat etwa wie ein Abt sein Kloster, das durch eine strenge Klausur von der Welt hermetisch abgeschlossen war.

Im ersten Wahlgang hatte nach Lambru-schini der Kardinal Conte Giovanni di Mastai-Ferreti, Bischof von Imola, die meisten Stimmen auf seine Person vereinigen können. Im zweiten und dritten Wahlgang überstiegen seine Stimmen schon die Lam-bruschinis, ohne noch die erforderliche Mehrheit zu erlangen. Seine Anhänger warben eifrig für ihn. Sie wiesen darauf hin, daß er der einzige sei, der alle kommenden Angriffe zunichte machen könne.

Denn der Bischof von Imola stand im Ruf, ein „Liberaler“ zu sein. Einer seiner Brüder hatte sich politisch für den Liberalismus exponiert und war dafür bestraft worden. Als man Gregor XVI. nahelegte, den Bischof von Imola zum Kardinal zu erheben, rief er aus: „Der soll Kardinal werden? Im Hause der Mastai sind doch sogar die Katzen liberal!“ In aller Munde war auch der Ausspruch des Kardinals: Seines Wissens stehe der Fortschritt der Technik nicht im Widerspruch zur Theologie. Bekannt war auch von ihm, daß er ein nationaler Italiener war und für die Einheit Italiens eintrat, die er sich im neoguel-fischen Sinn als Staatenbund einschließlich des freien Kirchenstaates vorstellte.

Der Kardinal von Mastai-Ferreti war selbst einer der Skrutatoren des Konklave, der die Stimmen zu zählen hatte. Als er im vierten Wahlgang seinen Namen immer öfter las und schließlich bei einer Zahl angelangt war, die seine Wahl als sicher erscheinen lassen konnte, mußte er die Zählung unterbrechen, so übermannte ihn die Erschütterung. Er besann sich lange, warf sich auf die Stufen des Altars nieder, bis er auf die Frage: Acceptas-ne electionem de te factam in Summum Pontificem? eine bejahende Antwort gab. Sah er die Stürme voraus, die sein Pontifikat erschüttern sollten, und zögerte er deshalb, die Last aufzunehmen? Den Namen Pius VII., unter dessen Pontifikat er zum Priester geweiht worden war und mit dem ihn verwandtschaftliche Bande verknüpften, wählte er auch als seinen Namen. Pius VII. war der Papst des Exils und der Gefangenschaft. Auch Pius IX. sollte ein Papst des Exils und der Gefangenschaft werden. Unbewußt hatte er sich ein Vorbild genommen, dem er in vielem nachgeraten sollte.

Das Volk von Rom brach in Jubel aus, als der Kardinaldiakon das Ergebnis der Wahl vom Balkon des Quirinais aus verkündete. In die Begeisterung über das neu? Oberhaupt der Kird.e mischte sich der Jubel über die Person des Gewählten. Ein liberaler Papst! Die „Reaktion“ in der Kirche zu Ende!

Der neue Papst enttäuschte nicht die Hoffnungen, die man in ihn gesetzt hatte. Er ließ Tausende von politischen Gefangenen frei, die in den Kerkern des Kirchenstaates schmachteten. Er milderte die Zensur, schuf eine Bürgerwehr, eröffnete einen Staatsrat, führte einen Ministerrat ein. Er ging noch weiter: ernannte Laien zu Ministern, eine unerhörte Neuerung. Er gestattete ein Parlament! Italien raste vor Begeisterung. Der Jubel der Italiener überschlug sich, als Pius IX. anläßlich der Besetzung Ferraras durch Österreich mit einem feierlichen Protest auftrat. „Kein Haus sah ich“, schrieb Moltke, der, damals von Sizilien kommend, das ganze Land durchquerte, „an dessen Tür nicht ,Evviva Pio nono' stand und aus dessen Fenstern nicht eine päpstlidie Fahne hing.“ Metternich war über den neuen Papst entsetzt.

Metternich täuschte sich, als er Pius IX. für einen Liberalen hielt. Ebenso wie sich alle Liberalen Europas darin täuschten, die ihn die ersten zwei Jahre seiner Regierung für einen der „Ihren“ hielten, um ihn dann, als sie ihren Irrtum erkannten, dreißig Jahre mit ihrem Haß zu überschütten. Pius IX. war kein Liberaler. Im Jahre 1864 ließ er im berühmten „Syllabus“, dem Verzeichnis aller Irrtümer, ausdrücklich den Satz verurteilen, daß der Papst sich mit dem Liberalismus und den Ideen des Fortschritts aussöhnen solle. Seine Reformen, die er in den ersten Jahren seiner Regierung als Oberhaupt des Kirchenstaates eingeführt hatte, wie teilweiser Abbau des Priesterbeamtentums, Abschaffung der Korruption, des Spitzelwesens, Verbesserung der Verkehrsverhältnisse durch Erbauung von Eisenbahnen, waren allgemeine menschliche Reformen, die nur insoweit mit dem Liberalismus etwas zu tun haben schienen, als sie der Liberalismus am heftigsten forderte und die Erringung jeden Fortschritts für sich beschlagnahmte.

Diese Reformen Pius' IX. waren nur das vorsichtige Tasten in eine neue Zeit. Pius IX. fühlte instinktiv, daß das Papsttum an einer Grenze angekommen sei, an einer Grenze, wo es sich von vielen Formen trennen mußte, die es aus dem Mittelalter und der Renaissance mittrug. Pius IX. ging daran,das Erbe des Mittelalters, den Priesterstaat der Päpste, und das Erbe der Renaissance, den italienischen Staat der Päpste, zu liquidieren. Die Geschichte ging andere Wege, als er es gewollt hätte. Das war sein großes Leid. Und er führte das Papsttum dorthin, wo es nach dem Willen seines Stifters stehen soll: unmittelbarer Stellvertreter Christi zu sein und die Fülle der Binde- und Lösegewalt zu besitzen. Das war die Größe Pius' IX.

Pius IX., der Papst der „Grenze“, war bereit, der Welt zu geben, was der Welt gehörte, solange sie Gott gab, was ihm gehörte. Er ging bis an die Grenzen dessen, was er für möglich und erlaubt hielt, erst dann sprach er sein hartes und unerbittliches „Nein“. Sein Staatssekretär Antonelli brachte dieses „Nein“ in die unnachahmliche Formel des „Non possumus“. Non possumus, das hieß, ich werde lieber Haß, Gefangenschaft und Tod auf mich nehmen, als von meinem Nein abweichen. Und Pius IX. nahm in seiner langen Regierung Haß, Feindschaft, Exil und Gefangensdiaft auf sich, nur um bei seinem Nein zu bleiben.

Er bewilligte in den ersten Jahren seiner Regierung solange Reformen, solange sie seiner Überzeugung nach nicht die Substanz der menschlichen Gesellschaft zerstörten. Er floh aus Rom und ging ins Exil nach Gaeta im neapolitanisdien Königreich, als die Revolution von 184S Unmögliches von ihr verlangte. Er trat ein für die Verteidigung der Grenzen des Kirchenstaates gegenübet Österreich und protestierte energisch dagegen, daß seine Truppen die Grenzen überschritten und einen Angriffskrieg gegen Österreich begannen, ohne Rücksicht darauf, daß er dadurch über Nacht vom populärsten zum unpopulärsten Mann Italiens wurde. Er sprach sein hartes und unerbittliches Nein bei der Liquidierung des Kirchenstaates. Dieses Fürstentum der Päpste war kein wesentlicher Bestandteil des Papsttums, das wußte Pius IX. und er war deshalb bereit, ihn in eine italienische Union einzubauen* Aber die Art, w i e er liquidiert wurde, war Raub und ließ dem Papst nicht einmal jenes kleine Stück Land, über das er nicht als Oberhaupt eines Staates, sondern als Oberhaupt der Kirche herrschen mußte, wenn nicht die Leitung der Kirche behindert sein sollte. Er hielt unerbittlich fest an diesem Anspruch — nicht der Päpste, sondern des Papsttums — nach einem unabhängigen Territorium, er ließ sich nicht täuschen durch die Scheinsouveränität, die ihm das neue Italien durch das Garantiegesetz anbot, sondern hielt den Sdiein der Souveränität aufrecht, indem er, der sich der „Gefangene des Vatikans“ nannte, in seinem „Kerker“ weiterhin Münzen prägen ließ, solange sein Goldschatz reichte.

Zu jener Zeit, da die große Tragödie im Leben Pius' IX., die Besetzung Roms durch die Italiener, herannahte, erklomm das Papsttum seinen geistlichen Höhepunkt. In seiner Sitzung vom 18. Juli 1870 erklärte das Vatikanische Konzil, jenes Konzil, welches Pius IX. im Jahre 1869 eröffnet hatte, daß der Papst nicht nur in der Kirche einen Ehrenvorrang besitze, sondern die Fülle der Gewalt, und daß er unfehlbar sei bei feierlichen Entscheidungen „ex cathedra“, die den Glauben und die Sitten betreffen.

Mit diesem Dogma trug das Konzil die Idee von Konziliarismus und Episkopalismus, die gelehrt hatten, daß das Konzil über dem Papst stehe und somit der Papst nur erster unter lauter gleichen Bisdiöfen sei, zu Grabe.

Zwei Monate nach Proklamierung des Unfehlbarkeitsdogmas besetzten die italienischen Truppen Rom. „Consumatum est“, soll Pius IX. gesagt haben, als man ihm meldete, daß an der Porta Pia eine Bresdie gesdiossen worden sei und der Feind in die Stadt ströme. Es ist vollbracht — Leid und Größe Pius' IX. vollendeten sich im selben Augenblick der Geschichte.

Das Unfehlbarkeitsdogma wurde in einer Zeit verkündet, da der Liberalismus die Unfehlbarkeit der mensdilichen Vernunft proklamierte. In den Tagen, da einem Menschen eine beinahe gottähnliche Stellung zuerkannt wurde, die aber in Wirklichkeit nur die Stellung eines besonderen Diener Gottes ist, proklamierte der Liberalismus die autonome gottähnliche Stellung des Menschen. Aber er 1 proklamierte sie ohne Gott. Daß Pius IX. den Menschen und die Vernunft Gott unter-' warf, das hat ihm der Liberalismus nicht verziehen und deshalb richtete er seine wütendsten Angriffe gegen ihn.

Schon vor dem Vatikanischen Konzil hatte Pius IX. als ein gefährlicher Feind der neuen Zeit gegolten. 1864 hatte er den Katalog aller Irrtümer herausgeben lassen. Hier standen sie alle beisammen, die nun nach den Definitionen des Vatikanums zum ununterbrochenen Sturm gegen Kirche und Papsttum liefen, die nun in den Staaten der Welt die Völker aufpeitschten, sich doch endlich von dem Papsttum zu befreien und dafür zu sorgen, daß Pius IX. der letzte Papst sei, den sie sich gefallen lassen müsse.

Der Haß seiner Feinde traf noch den toten Papst. Als sein Leichnam, seinem letzten Wunsch gemäß, von St. Peter nach San Lorenzo überführt werden sollte, kam es zu wütenden Auftritten des Pöbels gegen den Leichenzug. An der Tiberbrücke versuchten die Massen den Wagen zu stürmen und den Sarg in den Fluß zu werfen. Die Theologen vom Germanikum mußten den Papst im wahrsten Sinn des Wortes in einem wütenden Handgemenge herausreißen. Der Leidienzug erreicht erst nach fünf Stunden San Lorenzo.

Pius IX. hatte vor seinem Tod gesagt: „Ich bin wie ein Stein, wohin ich falle, bleibe ich liegen.“ Er war in Wahrheit der Grundstein des neuen Papsttums. Ohne sein „Non Possumus“ hätte Leo XIII. nicht sein „tolerari posse“ gegenüber der Welt sprechen können. Ohne seine Verurteilung der Irrtümer der Zeit hätte Leo XIII. und Pius XI. nicht eine positive Soziallehre aufbauen können. Ohne sein seelsorgerliches Wirken, das in der Verkündung des Dogmas von der „Unbefleckten Empfängnis Marias“ gipfelte, hätte Pius X. nicht sein „Omnia instaurare in Christo“ sprechen können. Ohne sein beharrliches Pochen auf die Freiheit des Papsttums nicht Pius XI. der Gründer des Vatikanstaates werden können. Pius IX. hat in seiner zweiunddreißigjährigen Regierung, dem längsten Pontifikat der Geschichte, viel Leid erfahren. Sein Leid aber ist ein Teil der Größe der Kirche.

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