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Mit Placebos gegen die Eskalation des Krieges

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Der Fall der Schutzzone Srebrenica und angekettete Blauhelme als Geiseln schockieren den Westen. Die Öffentlichkeit verlangt energische Maßnahmen, aber sie bleiben aus.

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Der Fall der Schutzzone Srebrenica und angekettete Blauhelme als Geiseln schockieren den Westen. Die Öffentlichkeit verlangt energische Maßnahmen, aber sie bleiben aus.

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Der serbisch-kroatische Krieg war noch in aller Munde, ein Übergreifen auf Bosnien wurde in pessimistischen Kommentaren befürchtet. Monate vor dem Ausbruch der Kämpfe in seiner Heimat forderte der damalige bosnische Außenminister Silajdzic in Wien die Entsendung von internationalen Beobachtern zur Abschreckung, sein Wunsch wurde nicht einmal ignoriert.

Agiert hat die internationale Staatengemeinschaft, die EU und die UNO, in Ex-Jugoslawien noch nie. Reagieren, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden läßt, lautet offenbar immer noch die oberste Devise - und zwar mit Verteilen von Placebos, sei es in EU- oder in UNO-Blau.

Nur fünf Monate nach Kriegsbeginn in Bosnien-Herzegowina waren von den 4,3 Millionen Bewohnern bereits 1,7 Millionen aus ihren Wohngebieten vertrieben worden, ein Jahr später 2,8 Millionen. Ein halbes Jahr nach Kriegsausbruch kontrollierten die Serben bereits 70 Prozent des UNO-Mitgheds-staates Bosnien.

Begonnen hat es mit gut organisierten gelegentlichen Beschießungen, Terrorakten und Verschleppungen, die den Alltag allmählich zur Hölle machten, bis der Druck auf die plötzlich verhaßten Nachbarn anderer Nationalität groß genug war für die „ethnischen Säuberungen”, wie die Vertreibung von Millionen heute genannt wird.

Gewußt hat man davon, aufgerüttelt wurde die Welt erst - wieder einmal - durch starke Fernsehbilder von Verhungernden hinter Stacheldraht aus dem Konzentrationslager Omarska.

Danach konnte zumindest das Rote Kreuz die Konzentrationslager inspizieren, die Freilassung aller Gefangenen wurde eingeleitet, eine UNO-Resolution äußerte „Besorgnis über die Verletzung der Internationalen Menschenrechte”. Die Berichte der zuletzt aus Srebrenica Vertriebenen von Vergewaltigungen, Morden und Mißhandlungen werden das vielleicht beschleunigen. Resolutionen und auch die Drohung einer Anklage wegen Kriegsverbrechen verhinderten keine weiteren Greueltaten.

Als reines Placebo erwies sich auch das Anfang Oktober 1992 verhängte Verbot von Militärflügen über Bosnien per UNO-Resolution zur Verhinderung von Luftangriffen. Ein halbes Jahr später und nach 500 Verstößen, vor allem durch Serben, bewilligte der UNO-Sicherheitsrat die militärische Durchsetzung des Verbots, auch das blieb mit einer Ausnahme wirkungslos.

Die im April und Juni 1993 eingerichteten UNO-Schutz-zonen erfüllten ihre Aufgaben, die Sicherung und Versorgung der Bevölkerung mit Hilfsgütern und den Schutz vor Angriffen, in keiner Weise. Monatelange Blockaden von Nahrungsmittellieferungen konnten sie nicht verhindern. Lager mit von Soldaten beider Seiten abgegebenen Waffen, die in den entmilitarisierten Zonen unter UNO-Kontrolle gestellt wurden, erwiesen sich als Selbstbedienungsläden im Bedarfsfall. Der Fall von Srebrenica legte die Ohnmacht der angeblichen Beschützer bloß.

Denn die Gründe für das Fehlen wirksamer Reaktionen sind noch immer die gleichen: US-Präsident Clinton will massive NATO-Luftan-griffe zur Sicherung der UNO-Schutzzonen. Die dafür jeweils erforderliche Zustimmung von UNO und NATO war bisher nie zeitgerecht erfolgt. Die NATO lehnt weitere Luftangriffe unter dieser Befehlsstruktur ab, die UNO beharrt darauf.

Als serbische Reaktion auf Luftangriffe ist die Geiselnahme von UNO-Blauhel-men zu erwarten: In Gorazde sind vor allem Briten stationiert, in Sarajewo Franzosen und die britischen und französischen Soldaten der Schnellen Eingreiftruppe. Die Franzosen setzen deshalb eher auf verstärkte Bodentruppen und wollen 1000 Mann nach Gorazde entsenden.

Die Aufhebung des UNO-Waffenembargos gegen Bosnien wird derzeit vom US-Senat betrieben. Clinton und westliche Blauhelmentsen-derstaaten ewägen dies höchstens nach einem UNO-Ab-zug. Am Wochenende beschlossen bereits die 52 Mit-gliedsstaten der Islamischen Weltkonferenz, sich nicht mehr an das Embargo gebunden zu fühlen.

Deshalb bleiben vorerst Scheinaktivitäten. Schriftliche Drohungen, die erst mündlich verstärkt werden, und angekündigte Verhandlungen - wie nun die von EU-Vermittler Bild in Aussicht gestellte Anerkennung Bosniens durch Belgrad - waren immer willkommener Zeitgewinn für die Angreifer, so konnten vollendete Tatsachen geschaffen werden. Ein UNO-Soldat in Sarajewo meinte einst, Gott möge uns vor weiteren Waffenstillstandsabkommen schützen, denn kurz davor komme es zu den heftigsten Gefechten, halt n würden sie ohnedies nie. Mit ihrer jüngsten Offensive wollten die Serben 80 Prozent des Landes unter ihre Kontrolle bringen, auch für die anderen Kriegspartner geht es um eine gute Ausgangslage für Verhandlungen, also möglichst viel zurückzuerobern.

Trotz aller Versprechen zählen Fakten offenbar mehr als die diplomatische Anerkennung von Staaten, Verträge und Vereinbarungen. Wo bleiben da die Prinzipien des Westens, Aggressoren dürften niemals siegen, Grenzen nie gewaltsam verändert werden, ethnische Säuberungen nie geduldet werden?

Von Zivilisation und Menschenrechten, von Freiheit und dem gemeinsamen Europa ist bei Festspielen derzeit viel die Rede. Bundespräsident Klestil sagte in Salzburg: „Gerade aus der entsetzlichen Niederlage der menschlichen Zivilisation im früheren Jugoslawien lernen wir, daß der Traum vom gemeinsamen Europa nur dann Wirklichkeit werden kann, wenn sich alle Bürger dieses Kontinents zur selben Kultur- und Wertgemeinschaft bekennen.”

Moralische Ansprüche sind in Sonntagsreden leicht hingesagt, ihr Wert zeigt sich erst bei wirklichen Prüfungen. So muß es schon zu denken geben, wenn ein prominenter Bürger Sarajewos auf einen Vorschlag, Bosnien als ersten Schritt zu einer Rettungsaktion in die EU einzugliedern, antwortet: „Sie können alles mit mir machen, sie können mich sogar töten, aber sie können mich nicht zwingen, ein Teil ihrer Welt zu werden. Ich würde mich schämen, meinen Kindern zu sagen, daß ich zum ,Europäer' erklärt wurde.”

Glaubwürdiger als Vertreter dieser Kultur- und Wertegemeinschaft ist meist die Bevölkerung. In Österreich wurden bisher allein für „Nachbar in Not” 871 Millionen Schilling gespendet und damit mehr als 2900 LKWs Nahrungs- und Hilfsmittel nach Ex-Jugoslawien gebracht. Professionell agierten in Bosnien nur die Hilfsorganisationen, soweit die Kriegsparteien dies zuließen. Sie können den Vertriebenen und Hungernden, Verletzten und Verzweifelten glaubhaft zeigen, was europäische Zivilisation und Menschenrechte bedeuten. Das Vertrauen in die Politik ist längst verloren.

Die immer häufigere Frage nach dem Sinn solcher Spenden läßt sich einfach mit dem Ernstnehmen der vielen schönen Worte der Festspieleröffnungen beantworten: Taten, nicht Worte helfen den Opfern. Und dies wird in Österreich sehr wohl verstanden. Seit der jüngsten Eskalation fließt täglich eine Million Schilling auf das Spendenkonto, im Mai und im Juni waren es monatlich je fünf Millionen - keine Placebos, sondern wirksame Medikamente.

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