Traditionen der Feigheit

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Die Philosophin Ágnes Heller über die prägenden Überreste der kommunistischen Diktatur in Ungarn, ihre Verharmlosung und den geförderten Antisemitismus der Nachkriegszeit.

Am 28. August verleiht das Goethe-Institut in Weimar der ungarisch-jüdischen Philosophin Ágnes Heller die Goethe-Medaille, die seit 1975 als offizieller Orden der Bundesrepublik gilt. Ágnes Heller wurde 1929 in Ungarn geboren, als Jüdin verfolgt und verlor ihren Vater in Auschwitz. Nach der Befreiung wurde sie Zionistin, dann Marxistin und schließlich Kommunistin. Sehr früh widersprach sie Doktrin und Praxis der Partei und musste die Konsequenzen dafür tragen. 1978 emigrierte Ágnes Heller nach Australien und wurde 1984 Professorin an der New School of Social Research in New York. Sie hat sich von allen Ismen abgewandt und eine eigenständige Philosophie entwickelt, in der moralphilosophische Fragen im Zentrum stehen.

Die Furche: Sie waren eine der bekanntesten Gegnerinnen des kommunistischen Regimes in Ungarn. Warum ist das Regime um János Kádár letztendlich gestürzt?

Ágnes Heller: Der Kommunismus war in Ungarn illegitim. Hätte es freie Wahlen gegeben, so hätten die Ungarn jederzeit eine andere Partei gewählt als die des János Kádár. Der Zusammensturz kam im ersten möglichen Moment. Das Kádár-Regime war genauso illegitim wie das Rákosi-Regime. Ohne die sowjetische Armee hätte es keine einzige Minute existieren können.

Die Furche: Das Kádár-Regime hatte ungefähr so viel Unterstützung in der Bevölkerung wie das Horthy-Regime, 30 bis 35 Prozent, und die meisten Ungarn – mit Ausnahme der sehr kleinen Opposition – machten solange es ging, ihren Frieden mit dem Regime. War es das liberalste Regime Osteuropas, als das es von vielen bis heute gesehen wird?

Heller: Ja, so dachte man in Ungarn. Es war eine negative Legitimation, das mindere Übel. Bereits in den 60er, dann aber sicher in den 70er Jahren stabilisierte sich die Lage in Ungarn. Leben und leben lassen war die Devise. Man war nicht gezwungen öffentliche Bekenntnisse abzulegen, konnte aber privat seine Meinung äußern. Jeder musste wissen, wo die Grenzen der Meinungsäußerung waren, man gewöhnte sich daran, nicht das zu sagen, was man wirklich dachte. In dieser Hinsicht hat die Bevölkerung mit der Regierung zusammengespielt. Man wusste, wer seine Ablehnung öffentlich macht, wird Nachteile erfahren und kann auch verhaftet werden. So ging das ungefähr bis zur Mitte der 80er Jahre. Danach konnte man viel mehr sagen, weil das Regime nahe am Zusammenbruch war. Wir (Heller meint eine Gruppe Wissenschaftler, die 1977 aufgefordert wurde das Land zu verlassen; Anm.) haben diese Grenze überschritten und Kritik geäußert, daraufhin verloren wir unsere Arbeit, man entzog uns die Reisepässe, wir konnten nicht mehr hier leben. Wer sich nicht geistig betätigte, wer sich nicht politisch äußerte, dem ist nichts passiert, der konnte hier leben, die Arbeitsplätze waren gesichert. Es gab tatsächlich diese hässlichen Kompromisse. Meiner Meinung nach ist das einer der wichtigsten Gründe, warum sich Ungarn nach der Wende so schlecht entwickelte. Das Kádár-Regime ist dafür verantwortlich, weil es den Leuten beibrachte, es gibt Grenzen, die man nicht überschreiten darf, dass man kooperieren muss, dass man feige ist, dass man den Mund halten muss – und diese Gewohnheit lebt fort, trotz Systemwechsels.

Die Furche: Trotzdem gab es in den Medien damals keinen antisemitischen Diskurs …

Heller: Das stimmt so nicht, es gab Antizionismus und eine strenge antiisraelische Politik, man verteidigte offiziell die palästinensische Bewegung gegen das „imperialistische Israel“. Es war kein traditioneller Antisemitismus, man sprach nicht direkt von Juden, doch auch in der Parteizeitschrift hieß es, Israel ist der Feind, Israel ist aggressiv, Israel ist mit Amerika verbündet. Man erwähnte die Juden nicht, doch es war klar, Juden waren gemeint. Wer antisemitisch schreiben wollte, konnte dies tun, allerdings hinter einer antiimperialistischen Maske. Und man konnte sehr lange Zeit nicht über Auschwitz reden und unterschied nicht zwischen Faschismus und Nazismus. Es gab nur Faschismus, dessen Opfer Kommunisten und Sozialisten waren. Erst während Ende der 80er Jahre konnte man über Juden als die besonderen Opfer der Nazis sprechen. Bis dahin sprach man immer von Konzentrationslagern, in denen Kommunisten und Antifaschisten inhaftiert und getötet wurden.

Die Furche: Über 100.000 Juden überlebten und blieben in Ungarn, darunter auch ein verhältnismäßig hoher Prozentsatz von Intellektuellen. Haben die einen Teil der progressiven Traditionen gerettet?

Heller: Das stimmt. In der demokratischen Opposition gegen das Kádár-Regime waren insbesondere die Budapester jüdischen Intellektuellen sehr aktiv, weil sie kritisch waren, weil sie das Regime nicht gern hatten. Am Beginn der Rákosi- und der Kádár-Zeit waren die meisten jüdischen Intellektuellen pro-kommunistisch, sie verloren aber sehr bald ihre Illusionen. Schon in der Gruppe Imre Nagy gab es viele ehemalige Stalinisten, die Antistalinisten geworden waren, und viele von ihnen spielten 1956 eine wichtige Rolle. Und wenn Sie dann sehen, wen Kádár nach seiner Machtübernahme hat verhaften lassen, dann werden Sie sehen, wie hoch der Anteil von jüdischen Intellektuellen war. Sie waren natürlich keine religiösen Juden, sondern, wie man in Ungarn und auch in anderen Ländern des Realsozialismus sagte, „jüdischer Abstammung“. Das ist ein interessanter Ausdruck für Menschen, die sich nicht als Juden definieren, entweder weil sie Internationalisten sind und sich mit keiner Nationalität oder Religion identifizieren, oder aber weil sie sich lediglich als Ungarn betrachten. Das hat sich nach dem Systemwechsel verändert, nun gibt es Antisemitismus stärker denn je, aber es gibt auch eine Reihe von selbstbewussten jüdischen Organisationen. Es gibt heute viele junge Leute, nicht nur „jüdischer Abstammung“ sondern auch „christlicher Abstammung“, die sich für jüdische Kultur interessieren. Man soll diese doppelte Entwicklung sehen.

Die Furche: Aber in einigen ungarischen Medien wird Antisemitismus transportiert, wie das in westeuropäischen Mainstream-Medien nicht möglich wäre.

Heller: Ja, in Ungarn ist ein antisemitischer Diskurs möglich, der in Westeuropa unmöglich ist. Einige Leute haben mit offener antisemitischer Sprache nach der Wende angefangen mit den Stereotypen der 20er und 30er Jahre, und als sie sahen, dass es dagegen aus der ungarischen Gesellschaft fast keinen Widerstand gibt, haben sie sich bestätigt gefühlt und weitergemacht. Ich behaupte, dass nur eine Minderheit der Ungarn antisemitisch eingestellt ist, aber sich gegen diesen immer stärker werdenden Antisemitismus zu stellen, das haben wieder nur wenige getan, die meisten sind gewöhnt auf die andere Seite zu schauen und den Mund zu halten, so wie sie es während des Kádár-Regimes gelernt haben.

Die Furche: Der Nationalismus und wirtschaftliche Zickzackkurs der Fidesz-Regierung löst bei Rechts- und Linksextremisten im Ausland Begeisterungsstürme aus. Aber gerade bei der ungarischen Minderheit in der Slowakei und in Rumänien ist nationalistische Politik nicht populär …

Heller: Die Ungarn in der Slowakei aber auch in Rumänien wollen mit der Mehrheit in Frieden leben, sie haben keine Lust den Prellbock zu spielen. In beiden Ländern beteiligen sie sich an der Regierung. Fidesz versucht natürlich die Gefühle der nationalen Kränkung aufzuschaukeln, zum Glück kauft ihnen das die Mehrheit der Ungarn in den Nachbarländern nicht ab.

Die Furche: Wie lange kann Fidesz die Menschen mit einer Politik der nationalen Symbole zufriedenzustellen?

Heller: Da ist es schwer Voraussagen zu machen. Aber es scheint, dass Fidesz die Wahlversprechen nicht einhalten kann. Und wenn das den Wählern klar wird, könnte es zu einem Meinungsumschwung kommen.

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