Ausgebildete Einbildungen

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Der pädagogische Diskurs des 20. Jahrhunderts erweist sich bei genauerem Hinsehen als eine gigantische Illusionsmaschine. Ich sage ausdrücklich "Illusionsmaschine" und nicht "Lügenmaschine", da es nicht immer leicht ist festzustellen, ob das, was da so produziert wird, geradewegs als Lüge bezeichnet werden kann, oder ob die Akteure in diesem Diskurs selber an das glauben, was sie sagen.

I. Die Partnerschaftslüge

Sie dominierte wohl gut 30 Jahre weite Strecken des pädagogischen Diskurses. Im Schlepptau der Kulturrevolution der späten sechziger Jahre wurde eine ganze Pädagogengeneration mit der Idee infiltriert, dass wahrhaft menschengemäße Erziehung nur partnerschaftlich sein könne und dass Partnerschaft auch die der Demokratie gemäße Lebensform zu sein habe.

Der partnerschaftlich-demokratische Erziehungsstil war geboren, wie überhaupt alles ab den Siebzigern, jedes Segment des gesellschaftlichen Lebens sich abmühte, die bisher gepflegten Verhaltensformen (zumindest aber die damit zusammenhängende Rhetorik) den neuen Reglements zu unterstellen. Nicht nur die Lehrer hatten sich ab nun als Partner der Kinder im Erziehungsprozess zu verstehen, auch die Eltern verstanden sich nicht mehr so sehr als Väter und Mütter, sondern als Partner ihrer Kinder, manche Mütter gar als Freundinnen ihrer Töchter. Alsbald wurden sie auch - im Rahmen der Schulpartnerschaft - zu Partnern der Lehrer, und selbst die Schulinspektoren befleißigten sich eines partnerschaftlichen Führungsstils.

Erziehung braucht Macht

Warum aber ist die Partnerschafts- und Demokratierhetorik innerhalb der Pädagogik verlogen/illusionär bzw. ideologisch (von Ideologien sprechen wir ja bekanntlich, wenn die Täuschungen epidemisch werden)? Erziehern und Lehrern wird damit vorgegaukelt, dass Erziehung etwas sei, dass sie gemeinsam mit den Zöglingen zu vollbringen hätten und nicht vielmehr an ihnen. Partner (von lat. pars, der Teil - also Teilnehmer, Teilhaber) arbeiten miteinander an einem Werk oder Projekt, aus dessen Gelingen beide Nutzen ziehen. Die Beteiligten tun dabei in der Regel nicht dasselbe: Bei einem Softwaregeschäft beispielsweise entwickelt einer die Programme, der andere übernimmt den kaufmännischen Anteil. Das maßgebliche Dritte ist das gemeinsame Projekt, welches das Engagement der Partner steuert und bündelt. Eben dieses Dritte fehlt im Fall der Erziehung. Der Erzieher kann nicht sagen: "Komm, Zögling, sei mein Partner! Du stellst deine unendliche Bildsamkeit und Lernfähigkeit zur Verfügung, ich steuere mein pädagogisches Knowhow bei - und gemeinsam machen wir aus dir einen gebildeten Menschen."

Geleugnet wird, dass Erziehung wie Menschenführung ohne Macht nicht zu haben ist. Man hätte auf diesen Sachverhalt auch aufmerksam werden können, wenn man Max Weber gelesen hätte. Bei ihm heißt es nämlich: "Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht." Vor allem den letzten Halbsatz hätte man genauer lesen und dann bemerken können, dass Macht gar nicht unbedingt etwas Brutales, Grausames, jedenfalls der Kinderseele Unangemessenes sein muss. "Gleichviel worauf diese Chance beruht" heißt, dass diese auch auf Respekt, Bewunderung, oder dem Charisma des Erziehers basieren kann. Man muss also bei "Macht" nicht immer gleich an Prügelstrafe und Schwarze Pädagogik denken. Aber es ist schon der erste Teil der Weber'schen Machtformel, der diese für Pädagogen so abseitig macht: "den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen". Dagegen sträubt sich die Pädagogenseele, dagegen steht die ganze pädagogische Semantik des Helfens, des Förderns - wer wollte schon etwas fordern! -, der Erziehung als Hilfe zur Selbstverwirklichung u. ä.

II. Die Lüge von der Irrelevanz des Wissens

Das Buch von W. Fuld "Die Bildungslüge" trägt den Untertitel "Warum wir weniger wissen müssen und mehr verstehen müssen". Fuld bedient damit die heute herrschende Ideologie von der Bedeutungslosigkeit des Wissens, bedient auch die mittlerweile schon etwas antiquierte Vorstellung davon, dass die Schüler mit sinnlosem Fakten- und Datenwissen traktiert würden. Aber die Antwort auf die Frage, wie wir denn mehr verstehen könnten, wenn wir weniger wüssten, bleibt uns Fuld schuldig. Üblicherweise ist es nämlich ein Wissen, welches uns fehlt, um eine Sache doch zu verstehen.

Als Hilfsargument für die These von der abnehmenden Bedeutung des Wissens wird vielfach die so genannte "Wissensexplosion" ins Treffen geführt. Was explodiert, ist allerdings nicht das Wissen, sondern die Zahl der Publikationen. Und die sattsam bekannte Behauptung, dass sich alle drei Jahre das Wissen verzehnfache, kommt schlicht daher, dass man die Bestände der National Library of Congress gezählt hat. In diesen Kontext gehört auch die Rede vom "Lernen lernen". Die "Wissensexplosion" und die daraus folgende geringe "Halbwertszeit" des Wissens führten nämlich, so heißt es, zum Relevanzverlust des Wissens bei gleichzeitiger Bedeutungssteigerung des Lernens an sich - was in der Formel vom "Lernen des Lernens" seinen Niederschlag findet. Es komme eben nicht mehr so sehr auf die Inhalte an, die sich ohnedies - "Wissensexplosion"! - ständig änderten, sondern darauf, dass man das Lernen gelernt habe. Indes, denke ich, kann man das Lernen gar nicht lernen. Man kann Dividieren lernen, Rückenschwimmen, Radfahren, Klavierspielen - nur das Lernen kann man nicht lernen, weil das Lernen kein Inhalt ist, sondern sich auf Inhalte und nach Inhalten richtet.

Die reformpädagogisch inspirierte Verachtung von Wissen und Bildung, die sich als "Humanisierung" der Schule und des Lernens ausgab, weicht heute einer neuen, nämlich der ökonomistisch-utilitaristischen. Während aber der romantisch-kinderfreundliche, an irrationale Hoffnungen gebundene Reformdiskurs ja einige Schwierigkeiten hatte, in der Praxis Fuß zu fassen, hat der Reformdiskurs von heute kaum Probleme. Er appelliert nämlich schlicht an Denkmuster, denen ohnehin keiner entkommt; er entstammt dem Regelsystem des ökonomischen Diskurses und wird solcherart von allen verstanden. In diesem Sprachspiel ist ,,Wissensballast" kein faux pas und "Lehrplanentrümpelung" kein dirty word. Ballast und Gerümpel sind, was aufhält, die Geschwindigkeit und Flexibilität reduziert. Also nur das Notwendige lernen, eben die "Grundbildung". Sie besteht laut dem Memorandum von Lissabon aus Lesen, Schreiben, Rechnen, den IT-Fertigkeiten und zwei EU-Sprachen zur Förderung der Flexibilität (und nicht etwa, wie bei Humboldt, als Lernen von Weltsichten). Ansonsten gibt es nur noch lebenslanges Lernen zur Erhaltung der employability, der Beschäftigungsfähigkeit. Niederschwellige Grundbildung hat zudem die nützliche Eigenschaft, die Individuen bescheiden zu stimmen. Immer fehlt etwas...

Betrug an den Jungen

Ich will die Partnerschaftslüge bzw. die pädagogische Demokratieillusion gerne als eine notwendige Täuschung bezeichnen. Sie hat zwar auch einigen pädagogischen Praktikern das Leben schwer gemacht, sie hat aber auch mitgeholfen, den Erziehungs- und Unterrichtsstil entscheidend zu modifizieren. Wenn man bedenkt, dass in den Sechzigern noch ziemlich bedenkenlos gestraft, eingesperrt und geohrfeigt wurde, kann man den pädagogischen Partnerschaftsdiskurs durchaus als einen Beitrag zur Entbarbarisierung betrachten.

Die Lüge von der zunehmenden Bedeutungslosigkeit des Wissens hingegen halte ich für fatal. Mit ihr wird die nachkommende Generation unmittelbar betrogen. Jungen Leuten, die vielleicht ohnehin dazu neigen, vor der Sperrigkeit komplexer Sachlagen zurückzuweichen, zu sagen, dass alles sowieso in kürzester Zeit überholt sein werde, halte ich für pädagogisch verantwortungslos.

Ich bleibe bei der zumindest 200 Jahre alten pädagogischen Illusion von Bildung als Aufklärung, sonst müsste ich Qualitätsmanager oder Organisationsberater werden. Täuschungen zu enttäuschen gehört zwar seit jeher zum Geschäft des Aufklärers, aber ganz ohne Illusionen kommt auch der nicht aus.

Der Autor ist Professor für Pädagogik an der Universität Wien.

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