Auslagerung von Verantwortung

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GASTKOMMENTAR. Im Zeichen des Jugendlichkeitskults unserer Event-Kultur geben Erwachsene häufig keine Vorbilder mehr ab. Sie verzichten auf Erziehung oder diese verkommt zu einer Groteske.

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GASTKOMMENTAR. Im Zeichen des Jugendlichkeitskults unserer Event-Kultur geben Erwachsene häufig keine Vorbilder mehr ab. Sie verzichten auf Erziehung oder diese verkommt zu einer Groteske.

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Immer mehr Kinder und Jugendliche finden wenig festen, verlässlichen (Rück-)Halt. Wer möchte heute noch Reibebaum, unverrückbarer Wegweiser, sicherer Anker für die Heranwachsenden sein? Viel zu anstrengend und oft zermürbend. Da ist es für Eltern schon weit angenehmer, die Rolle des besten Freundes oder der besten Freundin den Kindern gegenüber zu spielen und in der Erziehung einer pseudodemokratischen Nivellierung zwischen Kindern und Erwachsenen zu erliegen. Eltern oder Alleinerziehende entledigen sich ihrer Erziehungsverantwortung mitunter eben auch dadurch, dass sie die Kinder überhöhen, zu ebenbürtigen Partnern erklären. Dadurch gehen die Erwachsenen allmählich jeglicher Autorität in Erziehungsfragen verlustig. Früher oder später resultieren daraus beiderseitige Überforderungssituationen, die sich auf Heranwachsende stets nachteilig auswirken.

Erziehung ist fürwahr ein schwieriges und forderndes Unterfangen. Wir stoßen an Grenzen, sind oft ratlos. Wer ist da nicht geneigt, einfach aufzugeben? Aber wie soll man das mit dem schlechten Gewissen vereinbaren? Kein Problem, liebe Eltern oder Alleinerziehende! Gibt es doch eine Legion von Fachleuten und professionellen Erziehern, die das "Handwerk" viel besser verstehen. Die Sparte boomt. Die außerfamiliäre Kinderbetreuung wird gleichsam zu einem Glaubensbekenntnis erhoben. Also bitte: Wer sollte dieser Verlockung nicht widerstehen? Erziehung wird ausgelagert, Verantwortung wird ausgelagert. Alles paletti! Die Pädagogisierung, Psychologisierung und Infantilisierung der Erziehergeneration schreiten munter voran.

Die Verwöhnungsfalle

In den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, dass die Auslagerung der Betreuungs-und Erziehungsverantwortung aus dem häuslich-familiären Umfeld immer früher erfolgt. Kinder als die schwächsten Glieder der Gesellschaft bezahlen den Preis für die Unvereinbarkeiten elterlicher Lebenswelten. Der Mangel an Zuwendung, Zeit, Beziehung wird durch allerlei Surrogate ersetzt. Materielle Verwöhnung und Kompensation durch exzessives Konsumverhalten sind angesagt. Eine gefährliche Spirale. Das für Kinder notwendige, tragende und bergende, emotionale Familienklima bleibt dabei auf der Strecke.

Eltern können sich die Zuneigung oder Wertschätzung ihrer Kinder nicht auf Dauer durch Geld, Geschenke, materielle Güter erkaufen. Sie müssen sich diese fortwährend verdienen -unter anderem durch Authentizität, Geradlinigkeit, Verlässlichkeit, Einfühlungsvermögen, gelebte Werthaltungen und gemeinsam verbrachte Zeit. Wenn unsere Söhne und Töchter in ihren ersten Lebensjahren starke Wurzeln entwickeln und ein Urvertrauen aufbauen können, so ist uns als Eltern Grundlegendes gelungen. Dazu ist ein Gefühl der Geborgenheit sowie des vorbehaltlosen Angenommenseins unerlässlich.

Zu gegebener Zeit gilt es, die Kinder loszulassen. Ein Verharren unter dem schützenden elterlichen Schirm hemmt ihre persönliche und soziokulturelle Entwicklung. Wir müssen sie daher schrittweise in die Öffentlichkeit, in ihre Eigenverantwortung entlassen. Kuschelkurs wie Überbehütung schaden mittel-bis langfristig. Ermöglichungspädagogik sollte Verhätschelungspädagogik ersetzen.

Die Jugend muss ihren Weg finden, die Zukunft gestalten. Dass es dabei zahlreiche Hindernisse zu überwinden gibt, ist klar. In unserer zur Verwöhnung neigenden Gesellschaft werden ziemlich viele Heranwachsende auch in dieser Hinsicht verwöhnt und verhätschelt. Eltern sowie Miterziehende versuchen, möglichst alle Barrieren für den Nachwuchs aus dem Weg zu räumen. Das ist gut gemeint, aber falsch. Wenn man Kindern wie Jugendlichen nichts zutraut, ihrem Potenzial nicht vertraut, entmündigt man sie, macht sie unsicher und lebensschwach.

Existenzielle Pädagogik

Verwöhnung erweist sich stets als fatales erzieherisches Fehlverhalten. Wir dürfen nicht alle Aufgaben, Schwierigkeiten, Konflikte für unsere Kinder und Jugendlichen lösen. Noch sollten wir ihnen jeden Wunsch erfüllen. Selbstwirksamkeit kann so nicht erfahren, Selbstwertgefühl, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Selbstständigkeit, Selbst-und Problembewusstsein, Konfliktfähigkeit, Impulskontrolle, Aufschub-und Frustrationstoleranz können so nicht lernend aufgebaut werden.

Was die Heranwachsenden allerdings brauchen, ist unsere Aufmerksamkeit, wertschätzende Zuwendung sowie wohlwollende Ermutigung zur Eigenverantwortlichkeit.

Existenzielle Pädagogik ist eine Lebens-und Erziehungshaltung. Dem Wert und Sinn des Lebens wären in allen pädagogischen Überlegungen, Zielsetzungen und Handlungen große Aufmerksamkeit einzuräumen. Neben einem wachen Geist und einem wachen Herzen braucht es auch ein waches Gewissen. Respekt vor der Wahrheit, Wahrheitssuche sowie der Wille zur Wahrheitsfindung müssen wieder ermutigt werden. Tendenzen, die Wahrheit beliebig relativierbar zu machen, muss in Bildung wie Erziehung entschieden begegnet werden. Dabei kann es keineswegs um ein apodiktisches Festlegen der Wahrheit gehen, sondern um die Wahrheit soll in dialogischer Einstellung und Kommunikation gerungen werden.

Wir sollten in der Erziehung auch darauf hinwirken, dass die Heranwachsenden eine dynamische Persönlichkeitsstruktur entwickeln, die durch wünschenswerte Verhaltensweisen wie Ausdauer, Anstrengungsbereitschaft, Konzentrationsfähigkeit und Aufschubtoleranz charakterisiert ist. Kinder oder Jugendliche mit einem dynamischen Selbstbild scheitern nicht so leicht, da sie Niederlagen gewöhnlich als persönliche Herausforderungen erleben, an denen sie wachsen, reifen und die eigenen Potenziale entfalten können. Ermutigung wie Unterstützung vonseiten der Erzieher und Lehrer sind allerdings notwendig. Fehler, Niederlagen oder Misslingenserfahrungen sind letztlich Ressourcen auf dem Weg zur Ganzheitlichkeit, zur Entfaltung der Person.

Wurzeln und Flügel

Sowohl in der familiären als auch in der schulischen Erziehung bedarf es verlässlicher Leitlinien, Grundsätze, Eckpfeiler. Eltern, Erzieher sowie Lehrpersonen dürfen nicht - Gummiwänden gleich -zurückweichen, wenn Kinder oder Schüler anrennen, um ihre Grenzen auszuloten. Erziehung muss wieder ernst genommen werden. Die um sich greifende Erziehungsverunsicherung, -resignation und -verweigerung ist zu überwinden. (Bildungs-)Politik, Elternhäuser und Schulleute müssen gemeinsam dafür sorgen, dass unsere Nachwachsenden nicht verblendet und schlecht vorbereitet an einer sinnvollen Gestaltung ihres Lebens oder an den vielfältigen Anforderungen der Wissensgesellschaft scheitern. Eine Entwöhnung von der Verwöhnung tut not!

Wir müssen unseren Kindern Wurzeln und Flügel mitgeben. Junge Menschen brauchen starke Wurzeln, um fest gegründet in der Welt zu sein und in bewegten, stürmischen Zeiten des Lebens bestehen zu können. Im Heranwachsen sollen Jugendlichen dann auch Flügel wachsen, die es ihnen ermöglichen, in die Freiheit ihrer selbst verantworteten Existenz aufzuschwingen, ihre Visionen und Vorstellungen zu verwirklichen.

Eltern müssen sich ihren Kindern liebeund verantwortungsvoll zuwenden, nicht zuletzt, um sie in reflektierter Weise absichtsvoll zu erziehen. Erziehung ist vor allem Beziehung. Als Erzieherinnen und Erzieher müssen wir uns wieder stärker auf unser Gefühl, unsere Erfahrung sowie unseren gesunden Menschenverstand verlassen und entscheiden, was uns wirklich wichtig ist. Gerade in einer pluralen, dynamischen Transformationsgesellschaft, in der es zahlreiche konkurrierende Ziele und Werte gibt, müssen wir den Heranwachsenden vorleben, was uns sinn-und wertvoll ist. Dies gilt zuallererst für Eltern, aber ebenso für Schulleute in ihrer Vorbildwie Erzieherrolle.

Der Autor ist promovierter Pädagoge und Akademischer Politischer Bildner

Nachsitzen Österreichisches Bildungssystem am Pranger Von Herbert Molzbichler Braumüller 2017 208 Seiten, geb., € 19,-

Die scheinheilige Allianz Eine Streitschrift Von Herbert Molzbichler Hermagoras 2015 238 Seiten, geb., € 21,90

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