Wir bitten zum EU-Rats-Tisch!

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"The same procedure as every year" - die EU-Gipfel erinnern an den Silvester-Fernseh-Klassiker "Dinner for one": Viel Tradition, viel heiße Luft, nichts Neues. Doch EU-Protokollchef Hans Brunmayr widerspricht: Beim Gipfel-Dinner für Europas Spitzenpolitiker entscheidet sich die Zukunft der Union.

Wo Hans Brunmayr die europäischen Staats- und Regierungschefs beim dieswöchigen EU-Gipfel empfängt, steht Europa immer im Regen. Denn im Unterschied zum Vordereingang des Brüsseler Ratsgebäudes, den ein stählerner Stier mit einer wild reitenden Europa ziert, betreten die 27 europäischen Spitzenrepräsentanten den Ratssitz durch den Hintereingang - und dort empfängt sie ein Brunnen, der Wasser auf kleine bronzene Regenschirme tröpfelt, bis diese an Drähten nach unten sinken; Schirmchen auf der anderen Seite des Brunnens werden gleichzeitig nach oben gezogen: runter, rauf, runter … - gegenwärtig ein besser passendes Sinnbild für die EU als der stolze Stier. Dass keiner der hohen Gäste vom Regen in die Traufe kommt, dafür hat aber Brunmayr zu sorgen. "Ich schau drauf, dass die Abläufe passen", beschreibt der EU-Protokollchef der Furche seine Arbeit: "Ich muss Sorge tragen, dass die VIPs gut betreut werden, das Rundherum harmonisch ist."

Türsteher für die EU-Stars

Dieser EU-Gipfel ist für den Österreicher der 26. - und sein letzter, danach geht der 65-jährige in Pension, tritt von der europäischen Bühne ab, so wie Tony Blair, aber ohne den Wirbel, den der Brite um seinen Rücktritt gemacht hat. Doch über Blair lässt Brunmayr nichts kommen, "political animals" solchen Kalibers zollt er höchsten Respekt. Blair bleibe immer locker, selbst wenn alle anderen gegen ihn sind; so geschehen beim Finanzpoker vor zwei Jahren, bei dem Londons Statthalter den sogenannten "Britenrabatt" verteidigen musste.

Brunmayr sah damals, dass ein Sprecher von Blair wie zufällig eine Münze auf den Boden fallen ließ. Kurze Zeit später stellte sich der Premier auf die Münze - "der beste Winkel, das beste Licht" für seinen Auftritt vor den Kameras war ihm nur exakt an dieser Stelle sicher. Was spontan wirkte, Blairs Spin Doctors hatten es bis ins letzte Detail vorausgeplant. Hans Brunmayrs EU-Gipfelaufritte hingegen scheuen das Rampenlicht. Er ist der Mann im Hintergrund, der Zeremonienmeister, der den Auftritt der Stars vorbereitet und betreut, den Vorhang aufmacht, aber nie selber dahinter hervortritt. "Man darf sich in diesem Job für nichts zu gut sein", bescheidet sich der Spitzenbeamte, einer der sehr wenigen Österreicher, die es in der EU-Hierarchie nach ganz oben geschafft haben: "Im Grunde bin ich der Türsteher."

Berlusconi weg, Tisch bleibt

Den Eingang ins Ratsgebäude säumt ein roter Teppich; nur während Italiens Präsidentschaft vor zwei Jahren lag hier ein beigefarbener Vorleger - "Berlusconi dachte, dass diese Farbe seinen Teint besser zu Geltung bringt", erzählt Brunmayr aus dem Gipfel-Nähkästchen. "Er wollte den Erfolg um jeden Preis", sagt Brunmayr, doch aus einem zweiten Vertrag von Rom, zu dem Silvio Berlusconi die europäische Verfassung so gerne zu eigenen Ehren gemacht hätte, ist nichts geworden - der Verfassungsvertrag steckt nach wie vor in der Ratifizierungspipeline fest.

Wenn die deutsche Bundskanzlerin Angela Merkel an diesem Mittwoch antritt, um dem Verfassungsvertrag zum Durchbruch zu verhelfen, betritt sie das Ratsgebäude wieder über einen roten Teppich; den braunen Läufer hat Brunmayr nach Berlusconis Abgang entsorgt. Vom kapriziösen wie eitlen italienischen Ministerpräsidenten geblieben, ist der Holztisch für das traditionelle Gipfel-Dinner. Und diese Abendessen, bei denen die EU-Spitzenrepräsentanten völlig unter sich sind, können in ihrer Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden, sagt Brunmayr. Da entscheiden sich vierteljährlich die Geschicke der Union - das behauptet zumindest der Protokollchef, und wer sollte es besser wissen als er, der seit mehr als zwei Jahrzehnten hinter den EU-Vorhang blickt und seit einem Dutzend Jahren selbst die europäischen Kulissen verschiebt.

Im EU-Dschungel vermitteln

Nach Außenposten in Buenos Aires, Paris und Den Haag ist Botschafter Brunmayr 1985 zur EU-Integrationsgruppe im österreichischen Außenministerium gestoßen. Dort hat er Österreichs Beitritt zur Europäischen Union vorbereitet und mitverhandelt. Mit Österreichs EU-Mitgliedschaft 1995 ist er in den Europäischen Rat gewechselt: "Da wollte ich hin, diese Arbeit liegt mir als gelernter Diplomat."

Als stellvertretender Rats-Generalsekretär betreute er anfangs den noch in Geburtswehen liegenden "Vermittlungsausschuss" zwischen dem Europäischen Parlament und dem EU-Ministerrat. "Vertrauensbildende Maßnahmen" seien damals nötig gewesen, beschreibt Brunmayr seine Tätigkeit, denn das Misstrauen zwischen den zwei gesetzgebenden Organen der EU war groß und "das Imponiergehabe im Menschenreich steht dem im Tierreich nichts nach", fügt er hinzu.

Die Schrullen der Alphatiere

Mit den Eigenheiten der politischen Alphatiere Europas ist der Protokollchef nach wie vor bei jedem Gipfel konfrontiert: Die einen hasten grußlos an ihm vorbei, ignorieren den sie am Eingang empfangenden Brunmayr - darunter auch so Altgediente wie der frühere EU-Kommissionspräsident und heutige italienische Premier Romano Prodi. Blair oder Spaniens José Luis Rodríguez Zapatero wiederum begrüßen Brunmayr wie einen alten Bekannten.

Ein kurzes Händeschütteln, ein Blick in die Augen und ein paar höfliche Worte genügen dem Protokollchef, um zu wissen wie mächtig sich die Mächtigen gerade fühlen, wie stark, wie schwach, wie siegesgewiss oder nervös sie sind. Der deutschen Ratspräsidentin zum Beispiel merke man den Stress überhaupt nicht an, lobt Brunmayr: "Merkel ist sehr locker, extrem gut vorbereitet, hat ihr Dossier wirklich intus und die Rollen gut verteilt." Der deutsche EU-Vorsitz sei auch einer, so Brunmayr, bei dem es in der Delegation keine Spannungen gebe. "Auch bei der österreichischen Präsidentschaft letztes Jahr unter Schüssel war das so, aber bei Merkel ist es noch besser."

Welcher Ratspräsident?

Kein Vergleich zu ihrem Vorgänger Gerhard Schröder - dem habe die Gipfel-Höhenluft nicht gut getan, erinnert sich Brunmayr: "Der war ziemlich muffig, wollte, dass ihm alles zu Füßen liegt." Vom deutschen Altkanzler wird auch die Anekdote erzählt, dass er sich mit dem Auseinanderhalten der EU-Institutionen schwer getan hat. Als Kanzlerkandidat 1998 hat Schröder den EU-Kommissionspräsidenten Jacques Santer ständig als "Präsident des Europarates" angesprochen, was für große Erheiterung bei den anderen am Tisch gesorgt haben soll.

Leicht ist der Weg durch den EU-Dschungel tatsächlich nicht, das fängt schon bei den drei europäischen Räten an, die jeder eine völlig andere Institution bezeichnen (siehe Info-Kästen Seite 3). Ursprünglich war der Europäische Rat, die Versammlung der EU-Staats- und Regierungschefs in den Gemeinschaftsverträgen überhaupt nicht vorgesehen.

In den 1970er-Jahren begannen sich der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt und sein Duz-Freund, der französische Präsident Valéry Giscard d'Estaing, zu formlosen Kamingesprächen zu treffen - mit der Zeit gesellten sich andere Regierungschefs dazu, die EU-Gipfel entstanden, die sich schnell zum wichtigsten Entscheidungsgremium der Union entwickelten.

Dass es in diesem EU-Olymp mitunter recht profan zugeht, ist ein offenes Geheimnis: "Il faut pas enculer des mouches!" (Wollen wir jetzt hier Fliegen ficken!), soll sich der frühere französische Staatspräsident Jacques Chirac einmal über eine Forderung seiner Kollegen empört haben. Ein andermal schreiben zwei EU-Korrespondenten in ihrem Buch "Raumschiff Brüssel", belauschte ein Diplomat Chirac in der Gipfeltoilette, als dieser hinter verschlossener Klotür per Handy Frankreichs Verhandlungsstrategie mit Beratern besprochen hat.

Souffleur unterm Tisch

Immer noch stilvoller als der Londoner Premier John Major, der beim Maastrichter Gipfel in Fragen der EU-Forschungspolitik völlig überfordert war. Immer wieder rief er seinen Brüsseler Botschafter zu Hilfe, bis sich der Mann unter den Tisch kauerte, um seinem Chef zu soufflieren. Etwas hilflos war er nur, als der niederländische Vorsitz das Wort ergriffen hat - unter den Tisch reichte die Simultanübersetzung nicht.

Einmal ist selbst Protokollchef Brunmayr in die Mühlen des Zeremoniells gekommen: Bei einem Gipfel war unklar, ob sich die Regierungschefs der Kandidatenländer zum Abendessen gesellen dürfen. Schlussendlich hieß es: Nein! Doch der bulgarische Premier und frühere König Simeon II. Sakskoburggotski stand schon vor der Tür - was tun? Brunmayr ließ in einem Nebenraum einen Tisch decken und gab seiner Hoheit soviel an EU-Ehren, wie ihm möglich war: "Das war ein sehr interessanter Abend, der König ist ein gebildeter und reizender Gesprächspartner, da merkt man halt die gute Erziehung."

Lange wurden die Sitzungen des Europäischen Rates im Land des Ratsvorsitzenden abgehalten. Erst in Nizza, wo es im Jahr 2000 während des Gipfels zu Straßenschlachten mit Globalisierungskritikern gekommen war, entschieden die EU-Chefs, nur mehr in Brüssel zu tagen. "Hier in Brüssel interessiert das keinen, und die Belgier haben das gut im Griff", zeigt sich Brunmayr froh, dass der Gipfel-Wanderzirkus ein Ende gefunden hat. Bei den Treffen in den Vorsitzländern, kritisiert er, gab es die Tendenz, das Rahmenprogramm auszuweiten: "Das war kontraproduktiv." Die Gipfel in Brüssel, beschreibt der Protokollchef, sind "Arbeitstagungen, da stehen Resultate im Vordergrund, nicht das Zeremoniell".

Diese Nüchternheit fängt schon bei der Architektur des Ratsgebäudes an: "Die klaren Konturen und das feste Steinwerk ergeben eine aufregende Kombination aus Anmut und Standfestigkeit", heißt es in einem Brüssel-Stadtführer. Verglichen mit dem EU-Parlament und dem Kommissionsgebäude, deren Fassaden von Glas und geschwungen Formen dominiert sind, wirkt dieser eckige rosafarbene Marmorklotz aber wie eine Trutzburg mit Fenstern wie Schießscharten.

Benannt ist das Gebäude nach dem in Brüssel geborenen Gelehrten und bedeutensten modernen Stoiker Justus Lipsius. 1575 schreibt er in "De constantia": "Ob dein Vaterland nur wankt, oder ob es fällt, ob es niedergeht oder ganz und gar untergeht, soll dich nicht anfechten, sondern mache dir die Gesinnung des Krates zu Eigen. Der antwortete Alexander auf dessen Frage, ob er wolle, dass seine Heimatstadt Theben wieder aufgebaut werden solle:, Wozu? Vielleicht kommt dann ein anderer Alexander und reißt sie wieder ein.' Das sind die Worte eines Weisen, das ist die Haltung eines Mannes."

Vertrag nicht zuviel rupfen

Von Worten und Haltung der Ratsvorsitzenden Merkel wird jetzt das Wanken, Fallen oder der Erfolg des EU-Gipfels abhängen. Das Ja-Lager stellt zwar die Mehrheit, doch das nützt nichts. Bei Vertragsfragen hat jedes Land ein Vetorecht, darum müssen Kompromisse her: "Lieber den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach" - nur tot darf er halt nicht sein, der Verfassungsvogel. Aber Federn wird er lassen müssen. Brunmayr ist jedoch zuversichtlich, dass es Merkel gelingt, die Substanz des Vertrags durch die Rupfmaschine des Nein-Lagers zu retten.

Mit ausgewählten Einführungsreden, beschreibt der Protokollchef das Szenario, wird sie die Diskussion beim Abendessen in eine konstruktive Richtung leiten - "das hat sich schon beim letzten Gipfel bewährt." Sicher aufgeben müssen, werden die Vertragsbefürworter die EU-Symbole, Fahne, Hymne etc. Brunmayr: "Halt alles, was an einen Staat erinnert - das ist schade, aber so what!" Das Essen selbst wird beim Gipfeldinner jedenfalls Nebensache bleiben - nicht unbedingt zum Schaden der EU, denn der Franzose Jacques Chirac hat einmal geschimpft, "er geht lieber beim Japaner essen als im Ratsgebäude".

Europäischer Rat

Der Europäische Rat setzt sich aus Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten sowie dem EU-Kommissionspräsidenten und den Außenministern zusammen. Er tritt mindestens zweimal halbjährlich zusammen (EU-Gipfel) - seine Schlussfolgerungen gelten als politische Direktiven.

Rat der EU

Der Rat der EU (umgangssprachlich Ministerrat oder einfach Rat) setzt sich zusammen aus den Ministern der Mitgliedstaaten. Der Vorsitz im Rat wechselt halbjährlich unter den Mitgliedsstaaten. Zusammen mit dem EU-Parlament hat der Rat die Gesetzgebungsvollmacht innerhalb der EU.

Europarat

Der Europarat ist kein EU-Organ, sondern eine 1949 gegründete und heute 47 Staaten umfassende Organisation (u. a. Russland, Türkei …) Seine Satzung sieht die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zur Förderung von wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt vor. Sitz des Europarats ist Straßburg.

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