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Neuer Motor für Europa

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Eine breite Reihe sonntäglich gekleideter Herren schreitet durch die Geschäftsstraße der südfranzösischen Stadt Agde. In ihrer Mitte eine zierliche Blondine im schwarz-weißen Sommerkleid, die Sonnenbrille keck ins Haar gesteckt. Es ist keine Schauspielerin, die einen Drehort begutachtet, sondern Elisabeth Guigou, 45 Jahre alt, französische Ministerin für europäische Angelegenheiten.

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Eine breite Reihe sonntäglich gekleideter Herren schreitet durch die Geschäftsstraße der südfranzösischen Stadt Agde. In ihrer Mitte eine zierliche Blondine im schwarz-weißen Sommerkleid, die Sonnenbrille keck ins Haar gesteckt. Es ist keine Schauspielerin, die einen Drehort begutachtet, sondern Elisabeth Guigou, 45 Jahre alt, französische Ministerin für europäische Angelegenheiten.

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Agde, das an der Mittelmeerküste zwischen Sete und Narbonne liegt, ist nur eine der etwa 15 Stationen einer „Tour de France", die die Ministerin bis zum 20. September absolvieren will: An diesem Tag wird per Referendum entschieden, ob Frankreich den Vertrag von Maastricht ratifizieren soll, ob sich die Grande Nation zur geplanten Europäischen Union bekennt.

Das unerwartete „Nein" aus Dänemark und die wenig europafreundlichen Ergebnisse der Meinungsumfragen haben Guigou veranlaßt, selbst die Werbetrommel für Maastricht zu rühren. Denn: Die wenigsten Franzosen können sich unter dem Vertragswerk etwas Konkretes vorstellen. Je näher das magische Jahr 1993 rückt, in dem die europäische Union Wirklichkeit werden soll, desto größer werden die Ängste um nationale Souveränität und Identität; dabei sehen die Franzosen einmal die Rechte ihrer Notenbank in Gefahr, ein andermal bangen sie um den unverwechselbaren Geschmack der Gau-loises.

Elisabeth Guigou will alle kleineren und größeren Befürchtungen ausräumen und auf ihren Visiten - ob im Elsaß, in der Normandie oder an der Cöte d'Azur - den Bürgerinnen und Bürgern die Vorteile von Ecu, gemeinsamer Verteidigungspolitik und europäischer Zentralbank näherbringen.

Maastricht um zehn Francs

In Agde steht der Besuch von einem halben Dutzend von Geschäften auf dem Programm. Der Ablauf ist stets derselbe: Apotheker, Buchhändler und Optiker warten bereits brav vor dem Eingang - der Laden wurde kurz zuvor von Kunden geräumt -, der Bürgermeister stellt dem hohen Gast die Geschäftsleute vor. Die Ministerin erkundigt sich, welche Artikel besser oder schlechter gehen und woher die Touristen kommen: das Gros scheint heuer aus den Niederlanden und aus der Schweiz zu stammen, der Geschäftsgang wird allgemein als gut bezeichnet. Ausnahme: Der Besitzer einer Jeansboutique, mit dem die Europaministerin folgenden Dialog führt: „Sie haben ein schönes Geschäft." - „Danke, aber es ist wenig los." - „Wieso? Ich finde es sehr belebt." - „Ja, Madame, weil so viele Leute um Sie herum sind."

Nach dem verbalen Warmlaufen rückt Elisabeth Guigou bald mit ihrem eigentlichen Anliegen heraus. Sie fragt den Patron oder die Patron-ne, was sie von der europäischen Einigung hielten. Die Antworten sind höflich ausweichend bis klar positiv. Ein Buchhändler weist stolz auf ein glänzend neues Paperback mit dem Titel „Der Vertrag von Maastricht -Gebrauchsanleitung". Leider steht das über 600 Seiten starke Werk so weit oben im Regal, daß weder er noch die Ministerin in Griffnähe kommen.

Zum Schluß überreicht die Reisende in Sachen Europa den Geschäftsinhabern eine achtseitige blau-weiße Broschüre zum ominösen Vertrag, deren Zweck das erste Wort unmißverständlich klarlegt: „Lesen" steht groß über dem Titel. Auf die Frage des vorwitzigen Jeanshändlers, ob er das eben erhaltene Informationspapier auch verkaufen dürfe, antwortet

die Ministerin: „Ja, um zehn Francs". Kein Ausdruck echter Wertschätzung: Um diesen Preis erhält man im Bistro nebenan nicht einmal ein Fläschchen Mineralwasser. Wortwitz ist ihre Stärke nicht, Schlagfertigkeit beweist die kühle Blonde allerdings dann, wenn es um Europa geht. Gefragt, ob die geplante europäische Zenralbank nicht die französische Souveränität beeinträchtige, repliziert Guigou sofort: „Zur Zeit müssen wir uns an der D-Mark und an der deutschen Bundesbank orientieren. Die europäische Zentralbank wird nicht alles entscheiden, aber wir werden drinnen sein, und niemand wird an unserer Stelle

entscheiden."

Einmal jedoch zeigt die Ministerin, daß sie Europa und den Vertrag von Maastricht auch für einige Augenblicke vergessen kann. Als ihr ein kleiner Bub den Eingang zu einem Sportartikelgeschäft verstellt und sie mit großen Augen fragend anblickt, beugt sich Elisabeth Guigou, die selbst einen Sohn hat, hinunter und küßt den Kleinen auf die Wange. Das gehört nicht zum Programm, war nicht abgesprochen - das ist echtes Gefühl.

Vergleichsweise platt nimmt sich dagegen die Überreichung eines Brotlaibes durch die Besitzerin einer großen Bäckerei aus. Die Ministerin bedankt sich artig und ißt im Gehen davon, läßt jedoch sonst keine Bemerkungen zu dem Geschenk fallen.

Bürgernahe Verwaltung

Elisabeth Guigou ist nicht der Kumpeltyp, der spontan eine kleine Plauderei beginnt, und sie setzt auch nicht auf weiblichen Charme. Ihre Stärke sind nüchterne Argumente, die weit mehr an den Kopf als an das Herz appellieren: Qie Europäische Union bedeute vor allem eine wirtschaftliche Stärkung im Kampf gegen Japan. Als Krönung dieser Bestrebungen bezeichnet die Ministerin den Ecu, die einheitliche europäische Währung.

Weiters werde der Vertrag von Maastricht Europa eine effizientere Außen-und Sicherheitspolitik bescheren, die international organisierte Kriminalität könne man nur so in den Griff bekommen. Und: Die neue Ordnung soll bürgernäher sein als die bisherige Verwaltung. Nach dem Prinzip der Subsidiarität soll sich die europäische Zenralmacht „nur in die Bereiche einmischen, wo es unbedingt notwendig ist". Es sei nicht möglich, „Ja zu Europa" zu sagen ohne „Ja zu Maastricht", wird die Ministerin nicht müde zu erklären. „Das wäre so, als ob Sie beim Auto-kauf nur die Karosserie kaufen wollten und nicht auch den Motor. Und Maastricht ist der Motor Europas."

Eindringlich beschwört die Euro-

paministerin ihre Zuhörer bei jeder Gelegenheit, daß Europa seinen bisherigen Elan nicht verlieren dürfe, daß ein „Ja" zu Maastricht unbedingt notwendig sei.

Elisabeth Guigou weiß, was auf dem Spiel steht. In wenigen Wochen entscheidet sich möglicherweise das Schicksal von vier Jahrzehnten Europapolitik. Das dänische „Nein" kann die Europäische Gemeinschaft gerade noch verdauen - eine Ablehnung aus dem einstigen europäischen Musterland Frankreich hingegen würde ihr im Halse steckenbleiben, das Projekt „Vereinigte Staaten von Europa" wäre in weite Ferne gerückt.

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