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Französische Volkskunst

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Im 5. Buch seines großen Zeitromans „Gargantua und Pantagruel“ zählt Rabelais 180 Tanzlieder auf, die in den verschiedenen Provinzen Frankreichs gesungen wurden. Das war sicher nur eine Handvoll aus einer reichen Fülle. Aber in den späteren Jahrhunderten, besonders seit dem Ende des achtzehnten, nahm ihre Zahl rasch ab, in Frankreich — infolge der stärkeren Zentrierung des Kulturlebens auf Paris und infolge der allgemeinen Verbreitung der klassischen Kunstformen — wohl noch schneller als in den umliegenden Ländern. Auch in Frankreih waren, neben der Aca- demie von Besanęon, die romantishen Dihter — ein Chateaubriand, eine George Sand —, Liebhaber und Sammler der Volkslieder. Aber erst in den letzten Jahren wurde eine umfassende Kollektion, nah Provinzen geordnet und mit den dazugehörigen Noten versehen, durh Gante- loube in der Edition Durand in Angriff genommen.

Durh ein Gastspiel acht französisher Trachten- und Volkstanzgruppen lernten wir einiges au6 diesem reihen Schatz kennen. Wieviel davon noh wirklih lebendig ist, kann man als Fremder kaum feststellen, höhstens vermuten. Ebenso war es mit den vorgeführten Trachten, von denen einige offensihtlih aus Museen stammten. Doch bleibt, wie im Vorjahr, als die französishen Ensembles zium erstenmal nah Wien gekommen waren, des Schönen und Echten genug. Besonders reizvoll zu beobachten waren die Relikte älterer Hof- und Gesellschaftstänze innerhalb der freieren und beschwingteren Formen der Volkstänze. Am strengsten die Normannen in dunklen Männertrachten, die Frauen in riesigen weißen Spitzenhauben aus der Zeit um 1840. Die meist pentatonische Musik erinnert ein wenig an die schottische, die Bewegungen sind kraftvoll und gemessen. Beschwingter sind die Gascogner, noch lebhafter die Burgunder, und man merkt, wie der starke, rote Wein wie Feuer im Blut wirkt. Auch thematisch spiegelt sich die Landschaft in den Winzer- und Weinlese- tänzcn der Bourgogner. — Neu war auch die Gruppe der Elsässer., in Typus und Tracht sehr an die Schwarzwäldler und Älpler erinnernd. Ihre Bewegungen sind weniger graziös, die Tanzfiguren nicht etwa strenger, aber steifer als die der übrigen Stämme. Leider spielten und tanzten sie keine landeseigenen Tänze, sondern „elsäs- sische“ Polkas, Mazurkas und Schottische. — An Stelle der Basken, welche im Vorjahr den eigenartigsten Eindruck hinterließen, lernten wir heuer die Korsen kennen, Menschen von klassischer südlicher Schönheit und verhaltenen, schon an das Spanische erinnernden Gesten. Weniger echt als ihre Tänze erschienen uns ihre Lieder: Baroarolen und ein Klagegesang, Vocero, der auch aus einer Verdi-Oper stammen könnte. Doch war es sehr reizvoll, einmal den Beicanto in seiner Urform zu erleben. — Höhepunkt der diesjährigen Darbietungen waren die temperamentvollen, schnellen und zuweilen das Akrobatishe streifenden Tänze der Academie Provenęale — übrigens der einzigen Berufstanzgruppe. Ebenso eigenartig ihre Musik: dumpfe Trommeln und helle Pfeifen, die in ihrem Zusammenklang fast shon etwas Afrikanisches haben.

Der Generalnenner aller dieser Gruppen aber heißt: Frankreich, romanisches Formgefühl, gallische Leichtigkeit und Anmut.

Fast ebenso reizvoll, wie die Tanzfiguren zu verfolgen und den Liedern zu lauschen, war es, beim Aufstellen der Gruppen und in den sich ergebenden kleinen Zwischenpausen, beim Auf- und Abmanschieren die vollkommene Unbefangenheit und Spielfreudigkeit dieser Menschen zu beobachten, eine Freude an der Bewegung und an der Musik, welche die älteren unter den Darbietenden ebenso ergriff wie die jüngsten. Und noch etwas war sehr eindrucksvoll, fast rührend anzusehen: wie sich im Hintergrund der fröhlich agierenden Gruppen meist ein älteres Paar hielt, ein Mann und eine Frau, aufmerksam beobachtend, Anweisungen gebend, manchmal auch den Reigen anführend oder beschließend, gleichsam als Anstands- und Tugendwächter der jungen Leute. Darin spiegelt sich ein schöner, ehrfurchtgebietender, patriarchalischer Zug jenes Frankreichs, das man allzu oft und leichtfertig vergißt, wenn man zwar Frankreich sagt, aber Paris meint.

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