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VON NEUEN BÜCHERN

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„Der Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symbol der Zeit.“ Von Hans Sedlmayr. 256 Seiten. Otto-Müller-Verlag, Salzburg

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„Der Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symbol der Zeit.“ Von Hans Sedlmayr. 256 Seiten. Otto-Müller-Verlag, Salzburg

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Eines der bemerkenswertesten Symptome auf dem Markt der geisteswissenschaftlichen Buchproduktion ist die Tatsache, daß immer noch die Mehrheit der Neuerscheinungen „geschlossene“ Bücher sind. Werke, die einen mehr oder minder bereits vorliegenden Stoff statisch behandeln, zu Ende abhandeln. Sehr selten, immer noch, die Werke, deren Hauptanliegen die Aufzeigung neuer Fragen ist, das Offnen neuer Horizonte. Bücher also, die „offen" sind, die einen neuen Raum erschließen, die zur Diskussion einladen und einfordern und die einen unüberhörbaren Anruf an das Gewissen der Zeit darstellen, an das Gewissen des Wissenschaftlers wie das jedes Menschen, der bewußt die Last dieser Zeit mitträgt. Ein solches Werk ist das Buch Hans Sedlmayrs „Verlust der Mitte“. Um es vorwegzunehmen, es spricht sehr gegen die innere Wachheit und Aufgeschlossenheit unseres Publikums, das bis heute trotz sehr ein-töniger Rühmungen und ebenfalls sehr eintöniger Abwertungen eine echte Auseinandersetzung noch nicht in Gang gekommen ist. Der Einleitung einer solchen wollen diese Zeilen dienen.

Das Buch eines angesehenen Kunsthistorikers. Nicht aber, im alten Sinne, ein „rein kunstgeschichtliches" Werk. Worum es dem Verfasser geht, hat er in einem Aufsatz „Kunstgeschichte als Geistesgeschichte" (Wort und Wahrheit, 4. Jahrgang, April 1949) dargelegt. Sedlmayr fordert eine neue „Kunstgeschichte als Geschichte der Epiphanie des absoluten Geistes in den Brechungen des zeitabhängigen menschlichen Geistes"; er bezieht sich auf ein Wort von Max Dworak, der die Geistesgeschichte als Geschichte der „Korrelation der menschlichen Seele mit Gott" erklärt. Die Geschichte ernst nehmen, heißt nach Sedlmayr, „sie nicht harmonisieren, sondern als Kampf der Geister sehen, als Abfall und Wiedergeburt, und jede Epoche, mit Franz von Baader, als partielles Weltgericht". „Auf dieser höchsten denkbaren Ebene wandelt sich Kunstgeschichte als Geistesgeschichte in Kunstgeschichte als Pneumatologie und Dämonologie."

Ein hohes Wagnis. Es ist das Wagnis des Franz von Baader, des hintergründigsten, vielleicht stärksten und vielleicht gefährlichsten Geistes, den das deutsche 19. Jahrhundert hervorbrachte. In seiner Nachfolge steht Sedlmayr, der sich auch offen zu Baader bekennt. Dieses Wagnis besteht in einem großangelegten, der Konzeption nach allumfassenden Versuch, diese ganze Welt mit all ihren Phänomenen in Geschichte, Naturgeschichte, Physik und Metaphysik zu durchschauen. Sie ein-zusehen auf ihren Zusammenhang mit den letzten Dingen, mit Himmel und Hölle, Gott und Teufel. Und sie, diese Dinge und Erscheinungen der Geschichte und Naturgeschichte, zu prüfen auf ihr spezifisches Gewicht im Kraftfeld Gottes, sie einzuordnen in das Koordinatensystem der Heilsgeschichte. Der Geschichtsforscher, der Geisteswissenschaftler, der Kunsthistoriker tritt hier also, zumindest für einen Moment, für einen Herzschlag, an die Stelle Gottes — und sagt letzte Bezüge aus — über Heil und Unheil dieses und jenen historischen Phänomens. In diesem Sinne schaut — es handelt sich durchaus um ein exorzi- stisches, beschwörendes Sehen —, ersieht Sedlmayr die Kunst, die europäische Kunst von etwa 1760 bis zur Gegenwart als eine große Erscheinung, die in tausend Bild-, Form- und Gestaltzeichen einen ungeheuren und ungeheuerlichen Verfallsgang unseres Menschseins demonstriert: eben den „Verlust der Mitte", das Herausfallen des Menschen aus den letzten Bindungen, die Entkörnung der nur in einer Bindung an das Göttliche konservierbaren menschlichen Substanz, den Absturz in das Untermenschliche und Untergründige, einen satanischen Versuch, Fegefeuer und Hölle als Himmelreich zu preisen, Satan als Schöpfergott zu rühmen und den Menschen als Selbstherrscher über Himmel und Hölle zu konstituieren! Sedlmayr illustriert diese seine Schau am „Welken“ der alten Gesamtaufgaben der europäischen Kunst — Kirche, Schloß und Palast, am Aufstieg neuer führender Aufgaben: Landschaftsgarten, architektonisches Denkmal, Museum, Theater, Ausstellung, Fabrik. Eine Analyse des Stilchaos des 19. Jahrhunderts schließt sich logisch an diese Darlegung, da alle diese neuen Aufgaben Gleichberechtigung fordern. So entsteht „ein Stilpluralismus“ und eine erste „neue Sachlichkeit“: Das Tor für den Aufstieg der technischen Baukunst. Die Künste isolieren sich, es gibt kein Gesamtkunstwerk mehr. Der innere geheime, geistigseelische Angriff gegen die großen Ordnungen Alteuropas manifestiert sich dann im Generalangriff des 19. Jahrhunderts gegen die Architektur. Von Ledoux bis Corbusier zieht sich eine gerade Linie, die jenseits der alten Erde und des alten Himmels einen imaginären Raum für den neuen Menschgott auszugrenzen versucht. Die Malerei stellt, von Goya über C. D. Friedrich bis zur Gegenwart, „das entfesselte Chaos" dar. Der Surrealismus wird als „das Chaos des totalen Abfalls" signiert. Im zweiten Teil seines Werkes sucht Sedlmayr „Diagnose und Verlauf" dieser europäischen Menschenkrise darzulegen. Die Entwicklung ging „fort vom Menschen", „gegen den Menschen und seine Welt", „hinab zum Anorganischen". Die Ursache: der autonome Mensch, der sich selbst als Zentrum des Kosmos erfassen will, neuer Luzifer und Prometheus. Dieses Zeitalter der Moderne endet mit einem „Transzendieren dės Menschen nicht nach oben, sondern nach unten". Nach dieser kurzen Anzeige könnte nun der romantizistische und (pseudo-)kon- servative Leser zur Annahme kommen, daß Seldmayr die moderne Kunst als solche in Bausch und Bogen verurteilt. So einfach ist die Sache nicht. Der Verfasser würdigt im Schlußteil des Werkes die Künstler dieser Epoche, „deren Auftrag es war, in furchtbaren Visionen den Sturz des Menschen und seiner Welt sichtbar zu machen. Es gibt im 19. Jahrhundert einen ganz neuen Typus des leidenden Künstlers, des einsamen, des irrenden, des verzweifelten, des am Rande des Wahn sinns stehenden Künstlers, dem es früher höchstens als einzelnen gegeben hat. Die Künstler des 19. Jahrhunderts, die großen und tiefen Geister haben oft den Charakter von Geopferten und Sichopfernden." (Wir fügen hinzu: sie haben damit jenes Zeit- Kreuz auf sich genommen, das die Christen dieser Epoche nicht trugen, weil sie es nicht sahen, nicht sehen wollten). „Sie alle leiden darunter, daß Gott fern oder ,tot' und der Mensch erniedrigt ist.“

So einfach, so billig, wie etliche es vermuten, tut also Sedlmayr die moderne Kunst nicht ab. Er nimmt sie gerade in seiner Negation ernster als so viele Scheinpositivisten in ihrer Position. Dennoch bleibt ein Einwand — und dieser könnte mit Ausgangspunkt eines Gesprächs werden; tragen nicht sehr viele der von dem Autor angezogenen Phänomene einen Januskopf. dessen eine Hälfte dem Verderben, dem Zerfall zugewandt ist, die andere aber echten Neuansätzen? Steckt im Transhumanistischen der Moderne nicht auch ein positiv konstruktives Element, der Ansatz einer echten Transzendenz des schalgewordenen „christlich-humanistischen“ Salzes der alteuropäischen Kultur? Die Kunst von 1760 bis zur Gegenwart — ist sie nicht auch Zeichen eines neuen Aufgangs, jener Vorbereitung unseres alten Kontinents auf die großen Aufgaben, die im Heute gestellt sind im Treffen der Kontinente, im Ringen um eine wahrhaft globale Weltschau, Weltanschauung und Weltbeherrschung im guten Sinn des Wortes?

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