Andrea Roedig - © Foto: Markus Rössle

Andrea Roedig: "Man kann Müttern nicht trauen"

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„Man kann Müttern nicht trauen“: Andrea Roedig hat ein wichtiges Buch geschrieben: über die eigene Mutter, über eine Generation von Frauen und gegen so manchen Familienmythos.

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„Man kann Müttern nicht trauen“: Andrea Roedig hat ein wichtiges Buch geschrieben: über die eigene Mutter, über eine Generation von Frauen und gegen so manchen Familienmythos.

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Der vier- oder fünfjährige Bruder hat etwas angestellt und soll bestraft werden. Er werde, so der Vater, „eine Tracht Prügel bekommen“. Die „gnädige Alternative“ kommt von der Mutter: „Dann entscheide dich: Entweder du bekommst eine Tracht Prügel, oder wir schneiden deinem Schäfchen ein Ohr ab.“ Gemeint ist das Lieblingsstofftier des weinenden Kindes.

Als Erwachsene blicken die etwas ältere Schwester und der Bruder auf ihre Kindheit zurück. Der Bruder formuliert, wie er die Mutter empfand. Als Anweisung: „Du musst mir helfen“. Das bedeutete zum Beispiel konkret, der Mutter Captagon auch ohne Rezept aus der Apotheke zu organisieren. Die Schwester wiederum spürt noch Jahrzehnte danach den Auftrag, den sie durch beide Eltern erhalten hat, nämlich die Vernünftige zu sein. Schwierig war dies alles wegen der „reine[n] Unvorhersehbarkeit“, an die sich der Bruder erinnert. Denn nie hat er die Mutter beim Nachhausekommen in einem ihm bekannten Zustand vorgefunden, auf den er sich hätte verlassen können, „sondern es war immer eine Überraschung, es war immer irgendetwas, was passieren konnte“.

Andrea Roedig hat in ihrem Buch „Man kann Müttern nicht trauen“ ihre eigene Geschichte mit ihrer Mutter aufgeschrieben beziehungsweise hat versucht, jener der Mutter nachzugehen, wobei – auch das scheint eine Erkenntnis zu sein – man dieser Mutter wohl nicht wirklich nahe kommen konnte und nun auch nicht durch das Schreiben beziehungsweise Lesen kommt. Vielleicht ist der Versuch gescheitert, sie zu verstehen, aber nicht der Versuch, mit dieser Erfahrung, diesem Leben, diesen Erlebnissen zurechtzukommen. Während und nach der Lektüre fragt man sich freilich wieder einmal, wie manche Kinder es schaffen, ihre Kindheit in der Familie halbwegs heil zu überstehen.

Die promovierte Philosophin Andrea Roedig hat ihren Weg gemacht, als Journalistin, Publizistin, Buchautorin und als Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift Wespennest. Das Schreiben, das sie von klein auf betrieben hat, dürfte dabei viel geholfen haben. Ihr Buch über die Mutter ist geprägt von einem erstaunlich nüchternen Blick. Roedig beschreibt die Herkunft der Familie, das katholische Rheinland, geprägt von der Vergangenheit der Kriege, zu der das Verschwinden von Vätern ebenso gehörte wie das Schlagen der Kinder durch die Mütter.

In den Jahren danach das Wirtschaftswunder, der Aufbruch in den schönen Schein: fesche Kleidung und Frisur. Das Aussehen wie eine Filmschönheit überdeckt die Angst vor Sexualität, Autos, Ausflüge, Wohlstand lassen alles gut aussehen. Dann der Konkurs der Firma des Mannes. Der Absturz kulminiert in jener Szene, in der der betuchte Großvater zwar seinen Sohn und dessen beiden Kinder aufnimmt, die Schwiegertochter aber draußen vor der Tür stehen lässt, so sehr sie auch darum bittet und bettelt, bei ihren Kindern sein zu dürfen. Sie verschwindet für einige Jahre und danach auch immer wieder aus dem Leben ihrer Tochter. Diese greift Jahrzehnte später auf schriftliche Quellen zurück: etwa auf Briefe, die die Mutter ihr geschrieben hat, und auf eigene Tagebucheintragungen. Eine fällt besonders auf. Da notiert das zwölfjährige Mädchen To-do-Listen in sein Heft, um sich seinen Alltag zu strukturieren – und hält wenig später auch das Scheitern an diesem Plan fest, samt Vorsatz Nummer zehn: „Ich bin nicht so ­lamaschich“. Eine Spur, die zeigt, wie Kinder angesichts dieser „reinen Unvorhersehbarkeit“ versuchen und gezwungen werden, sich selbst Halt zu geben.

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