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Auf dem Schlachtfeld der Neurosen

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Eßstörungen in der Überflußgesellschaft gehen oft bis an die Grenzen des Todes.

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Eßstörungen in der Überflußgesellschaft gehen oft bis an die Grenzen des Todes.

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Scheinbar ist es paradox: Je höher die Zahl der Übergewichtigen wird, desto schlanker wird das von der Revölkerung akzeptierte und ersehnte Idealbild, besonders bei Mädchen und Frauen. Anders gesagt: Je mehr Fettleibige es gibt, desto dürrer werden die Models in den Illustrierten und in der Werbung. Die schlanken und ranken Mädchen und Frauen setzen sich in den Köpfen der Menschen fest. Die Folge ist: Wachsende Unzufriedenheit mit sich selbst. Weitere Folge: Zunehmende Versuche, dem Idealbild im Kopf gerecht zu werden. Das heißt: Diätkuren kommen in Mode.

Die ungezählten Versuche, die schlanke Linie wiederzugewinnen, verlaufen meist krampfhaft. Die Niederlage ist programmiert, und damit auch der nächste bevorstehende vergebliche Versuch. Es gibt nicht wenige Frauen, die stolz von sich behaupten können: „Ich habe schon alle gängigen Diäten durchprobiert - bei mir schlägt nichts an!”. In einer Untersuchung, die in Südtirol stattfand, stellte sich heraus, daß von allen befragten 11 bis 20jährigen jede dritte „auf Diät” war. Durchschnittlich ist also ein Mädchen von dreien mit der „Linie” unzufrieden und versucht, dementsprechend ihre Nahrung umzustellen oder schlicht zu hungern.

Der Innsbrucker Psychologe und Familientherapeut Günther Rathner bezeichnet Eßstörungen als „Lackmuspapier für kulturgebundene Syndrome”. Ein etwas älteres Zitat, das Anna Freud, der Tochter Sigmund Freuds zugeschrieben wird: „Der Mittagstisch ist das Schlachtfeld der Neurosen.” Das Rathner-Zitat bedeutet, daß Eßstörungen - logischerweise -dort seltener vorkommen, wo es Nahrungsmangel gibt. Wo man sich um das tägliche Rrot Sorgen machen muß, hat man andere Probleme, als seelische Ängste an den Speisenkonsum zu knüpfen. Nur in einer Überflußgesellschaft wie der westlichen Zivilisation können Neurosen in Form von Eßstörungen blühen. Auch im heutigen „Westen” gab es dergleichen übrigens in Mangelsituationen nicht, wie etwa in den Jahren nach dem Zweitem Weltkrieg. Mit dem Wohlstand änderte sich das.

Heute ist Übergewicht einer der bedeutendsten Krankheitsfaktoren geworden. Wie schon eingangs erwähnt: quasi als geistigen Ausgleich zu den zehn, 20,30 oder mehr Prozent „zuviel” auf der Waage phantasieren sich die Menschen nun immer dürrere Idealfiguren zurecht. Regonnen hat das schon in den sechziger Jahren mit Twiggy. Heute sind Kate Moss und Konsortinnen die Mustermodelle.

Rei vielen Menschen realisieren sich diese zaundürren Gestalten am eigenen Leib. Es handelt sich dabei um mehr oder weniger schwere psychiatrische Störungen: Anorexia nervosa und Rulimia nervosa. Reides sind Krankheitsbilder oder Störungen, mit denen nicht zu spaßen ist. Sie sind keine Modeerscheinungen, die man leichthin mit der Remerkung abtun kann, sie würden sich quasi von alleine wieder geben. Die Anorexie hat von allen psychiatrischen Störungen die höchste Mortalität, also Sterblichkeit. Rei der chronischen Anorexie (anders genannt: „Pubertätsmagersucht”) beträgt die Sterblichkeit (zehn bis 20 Jahre nach Auftreten der Krankheit) zwischen 15 und 18 Prozent. Jede fünfte bis siebente schwere Anorektikerin stirbt also an den Folgen ihrer Krankheit. Weitere häufige Folgen bei den Eßstörungen sind sozialer Abstieg bis hin zur Arbeitslosigkeit, Folgeschäden an inneren Organen, soziale Isolation, Depression, Unfruchtbarkeit, Knochenschäden.

Die medizinische und soziale Re-treuung der Eßstörungen ist teuer. Würden alle klinischen Fälle von Eßstörungen behandelt, ergäben sich in Österreich geschätzte Kosten von über zwei Milliarden Schilling pro Jahr.

Allerdings weiß man nichts wirklich Verläßliches über das Vorkommen der beiden Haupt-Eßstörungen in der Revölkerung. Es existiert keine wissenschaftlich seriöse Studie, wie häufig diese gefährlichen Krankheitsformen tatsächlich sind.

Der Psychologe Rathner hat nun erstmals eine Schätzung vorgenommen. Die spärlich vorhandenen Daten hat er, unter Rerücksichtung ausländischer Erfahrungen, extrapoliert.

Was dabei herausgekommen ist, müßte eigentlich jeden Gesundheitspolitiker alarmieren. Fast 300.000 Mädchen und Frauen entwickeln im

Lauf ihres Lebens zwischen Pubertät und Menopause eine Eßstörung -mehr oder minder stark, mehr oder weniger lang, manchmal mit der Notwendigkeit, im Spital behandelt zu werden, häufiger in einer Form, die von der Retroffenen kontrolliert werden kann und die von der Umgebung oft gar nicht wahrgenommen wird.

Diese 300.000 gliedern sich wie folgt auf:

■ Rund 110.000 zeigen das Krankheitsbild einer Rulimie;

■ etwa 90.000 leiden ebenfalls an Rulimie, aber in subklinischer Form, also nicht stark ausgeprägt;

■ geschätzte 100.000 erkranken an

Anorexie.

Warum sind vor allem Frauen und Mädchen betroffen? Rathner: „Rei Frauen und Mädchen der industrialisierten Welt scheint gezügeltes Eßverhalten die statistische Norm zu sein. Das weit verbreitete, vor allem durch das gesellschaftliche Schlankheitsideal bedingte Diätverhalten, die Rolle der Frau und widersprüchliche Rollenerwartungen an Frauen scheinen den Nährboden für die Entwicklung von Eßstörungen zu bilden.”

Katastrophal ist vor diesem Hintergrund der Mangel an spezialisierten Rehandlungsmöglichkeiten für Eßstörungen. „Die therapeutische Versorgung ist unzureichend”, so Rath-ner und seine Mitarbeiterin Rarbara Rainer. „Das erfordert die Schaffung und Finanzierung von Rehandlungs-zentren vor allem für ambulante, aber auch stationäre Therapie, um den derzeitigen Engpaß von Eßstörungen in Österreich zu beheben.”

Dazu kommt, daß nur wenige Spezialisten imstande sind, derartige Eßstörungen überhaupt als solche zu erkennen. Kinderärzte konnten in einer Untersuchung gerade jeden dritten Fall erkennen - zwei Drittel blieben unentdeckt oder wurden falsch diagnostiziert. Hausärzte scheinen überhaupt total überfordert: Unglaubliche zwei Prozent war die Trefferquote in einer entsprechenden Studie.

Auf diese Weise erklärt sich die enorme Dunkelziffer dieser Erkrankungen: Sie werden aus Scham oder anderen Gründen verschwiegen und verheimlicht, zum anderen Teil erkennen die Mediziner sie nicht.

Die möglichen Ursachen von Eßstörungen sind vielfältig: Soziokultu-relle Faktoren („Schlankheitswahn”) spielen ebenso mit wie individuelle und familiäre. „Es scheint”, so Rath-ner, „daß Mädchen, die eine Eßstörung entwickeln, in ihrer frühkindlichen Entwicklung ungenügend auf die Pubertätsaufgaben vorbereitet worden sind, also auf die Ausbildung von Selbständigkeit, Ablösung vom Elternhaus, Ausbildung sozialer und sexueller Kontakte und Entwicklung eines eigenen Lebensplans.” Durch die Eßstörung wird, so der Psychologe, versucht, die Zeit und die Rezie-hungen einzufrieren.

Erkennt man die Störung und behandelt sie frühzeitig, ist die Chance einer Heilung groß. Voraussetzung ist eine Therapie, die neben den körperlichen Gefahren (durch medizinische Fachkräfte zu betreuen) vor allem die individuell-psycholischen sowie die familiären Hintergründe berücksichtigt. Dazu aber ist ein ausgebildetes interdisziplinäres Team nötig. Rathner rät zum ambulanten Reginn einer solchen Therapie (mit wenigen Ausnahmen wie Suizidgefahr oder anderen lebensbedrohenden Zuständen).

„Ein wichtiger Satz zum Abschluß”, betont der Psychologe. „Eltern und Angehörige sind nicht schuld an der Krankheit! Sie müssen aber mithelfen, eine neue Form des Umgangs miteinander zu finden.” Häufig sind es eingefahrene Kommunikationsmuster, die zerstörerisch wirken. Das Einüben eines neuen Umgehens miteinander ist einer der Grundsteine für eine Heilung.

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