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Befreiung durch Paul Claudel

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Der Charakter der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts wird wesentlich vom Geist der Zersetzung und des Pessimismus bestimmt. Die von Comte zu einem wissenschaftlichen System zusammengefaßte positivistische Philosophie schuf die geistigen Grundlagen für Hippolyte Taine. In Taine verschmolz der Positivismus mit der Naturwissenschaft, deren Gesetze nun auch auf das geistige Schaffen angewendet wurden: „Laster und Tugend sind Produkte wie Vitriol und Zucker“. Mit dem gelehrigsten Schüler Taines, Emile Zola, stehen wir bereits mitten in jener Strömung, die schließlich das enthusiastische Preisen der negativen Seiten des Lebens bis zu einem ausgesprochenen Lebensekel bei Baudelaire übersteigert. Eine Welt ohne Gott, ohne moralische und ästhetische Wertung mußte schließlich diesen Abgrund zwischen dem Menschen und den Dingen aufreißen, der als „gouffre“ unheimlich durch die Verse Bau-delaires geistert.

Der Zweifel an Gott entwickelte sich konsequent zu einem Skeptizismus auch gegenüber den physischen Erscheinungen, denn alles Sein kann nur in Gott verstanden werden und ist ohne ihr sinnlos, eine willkürliche Groteske, in der sich nur das Zerrbild halrloser Triebhaftigkeit widerspiegelt. Aber audi das Wühlen in den tiefsten Tiefen menschlicher Lasterhaftigkeit wird zu Überdruß! In Paul Verlaine ist ein Punkt der seelischen Ersdiöpfung erreicht, der nur zwei Wege offen läßt: totale Dekadenz oder Wiederbelebung durch den Glauben. — Bei einer Weihnachtsmesse in* Notre-Dame wurde ein großer Dichter, wie Paulus von dem Wunder der Gnade berührt, jäh öffnete sich sein Herz dem Glauben, der ihm fortan Sinn und Inhalt seines Werkes wurde: Paul Claudel.

Als Gast der Katholischen Akademie sprach der französische Germanist Graf Robert d'H arcourt in einem hinreißend schönen Vortrag über das Leben und Werk Claudels:

Dichter und Diplomat verbinden sich in Claudel zu einer sich ergänzenden und fördernden Einheit. Von 1893 bis 1935 stand der Dichter im auswärtigen Dienst, der ihn China, Japan, Nord- und Südamerika bereisen ließ. Seinen mit den Dingen so vertrauten Augen erschlossen sich alle Reichtümer der Erde, und ihre Schönheit spiegelt sich in seinem Werk. Die vielfältigen Erscheinungen der Natur sind ihm aber kein Gegenstand des gefälligen Bestaunens oder des überschwänglidien Berauschens; die Schönheit nimmt bei ihm einen apologetischen Charakter an. Die höchste Aufgabe des Dichters sieht er darin, mit geweihten Händen die Schöpfung zu ihrer Quelle, zu Gott, zurückzuführen. Die paradiesisdie Vereinigung von Geschöpf und Schöpfer vollzieht sich mit Hilfe des begnadeten Künstlers, der als priesterlicher Vermittler zwischen Gott und der Welt steht. Aus dieser tief religiösen Einstellung zu den Dingen ergibt sich eine neue Beziehung zu ihnen. Das Sinnlose einer mechanistischen Welt, die diese innere Beziehung in ein wirres Stöhnen der Verzweiflung aufgelöst hat, wird durch ein liebevolles Hinneigen zu der Kreatur überwunden. Der Weg zu dieser Einstellung führt durch das Fegefeuer des Leidens und der Leidenschaft, im inneren Kampf - muß der Mensch das Vergnügen überwinden, um der großen göttlichen Freude wert zu werden.

Der geistige Kampf zwischen Gnade und Leidenschaft ist das zentrale Erlebnis des Mannes Claudel und die stärkste Triebfeder seine Dramatik. Das christliche Drama Claudels geht weit über Corneille und Racine hinaus, es ist eher den dramatischen Spannungen des Werkes Dantes und der großen Spanier zu vergleichen. Der christliche Mensch steht dauernd vor der inneren Ent-Scheidung, sein ganzes Leben ist ein ständiges Für oder Wider Christus. Aus diesem dramatischen Erleben des Christentums formt sich das Werk Claudels. E. R. Curtius nennt Claudel „das Sprachrohr des Geistes“, und in der Tat, sein Werk ist kein Geistesluxus, sondern Nahrung des inneren Lebens, es fordert die restlose Hingabe des ganzen Menschen, ja noch mehr: es fordert die Hinwendung zu Gott.

Der Einfluß Claudels auf die französische Literatur und darüber hinaus auf die ganze romanische, angelsädisisdie und deutsche Welt ist bedeutend. Vor allem die nach neuen Werten ringende Jugend fühlt sich stark zu ihm hingezogen; jene Jugend, die Claudel das Alter des Heroismus, nicht des Vergnügens nennt. Der Hunger nach Gewißheit in einer Zeit, da alles fraglich wurde, findet seine Stillung in der inneren Kraft des Glaubens, die ermutigend und erhebend den kraftlosen Pessimismus eines entgeistigten Weltmechanismus überwindet. Diese große Kraft hat Claudel zum ersten Male in Notre-Dame zo Paris verspürt, als 3m das Gefühl der ewigen Kindschaft Gottes überkam; aus ihr formte er sein gewaltiges Werk“, daß man nicrit schlechthin lesen kann, sondern erobern, ja verdienen muß.

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