Illustration Booklet - © Rainer Messerklinger

Julya Rabinowich: "Es geht uns alle an" - Gespräch über "Dazwischen: Wir"

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Wie geht es jemandem, der als Kind oder Jugendlicher aus einem Kriegsgebiet kommt? „Dazwischen: Wir“, der neue Jugendroman von Julya Rabinowich, greift wichtige Themen auf und ist erschütternd aktuell.

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Wie geht es jemandem, der als Kind oder Jugendlicher aus einem Kriegsgebiet kommt? „Dazwischen: Wir“, der neue Jugendroman von Julya Rabinowich, greift wichtige Themen auf und ist erschütternd aktuell.

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In ihrem neuen Jugendroman „Dazwischen: Wir“ erzählt Julya Rabinowich nicht nur vom Erwachsenwerden der aus dem Krieg geflüchteten Madina, sondern auch vom notwendigen Transformationsprozess der Gesellschaft.

booklet: Ich habe Ihr Buch gelesen, nachdem der Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, während täglich grauenhafte Verbrechen bekannt geworden sind. Sie thematisieren unter anderem den Krieg und seine Folgen. Wenn Sie jetzt daraus lesen, inwieweit verändert sich das Buch für Sie, angesichts der Gegenwart dieses neuen Krieges mitten in Europa?
Julya Rabinowich: Ich bin immer in dieser Gegenwart. Für mich ändert sich dadurch nichts. Ich habe die Kriegsgräuel, von denen man jetzt aus den Medien erfährt, schon in den Psychotherapien von den Patienten und Patientinnen gehört, die ich übersetzt habe, die aus Kriegsgebieten geflohen sind, gefoltert und vergewaltigt wurden, deren Kinder erschossen wurden. Ich habe auch bei Behandlungen von Kindern übersetzt, die diese Gräuel mitansehen mussten. Seit dem Moment, an dem ich das so ungefiltert gehört und gesehen habe, hat mich der Krieg nicht mehr verlassen. Ich weiß seitdem, wozu Menschen fähig sind, und ich weiß, dass es immer passieren kann.

booklet: Das, was Sie sagen, macht eine gewisse Blindheit sichtbar. Denn Kriegsfolgen hatten wir die ganze Zeit in Europa.
Rabinowich: Ich glaube, das ist ein menschlicher Verdrängungsmechanismus. Auch dass wir auf den Ex-Jugoslawien-Krieg vergessen. Es war etwas Schreckliches, es war in der Nähe. Der Krieg in Tschetschenien war auch nicht so weit weg. Der Syrienkrieg war weiter weg, aber die Menschen sind flüchtend zu uns gekommen. Afghanistan - ich könnte jetzt so viele Länder aufzählen. Der Krieg ist weltweit nicht weg. Weg ist nur immer wieder unser Fokus.

2015 war eine große Hilfsbereitschaft da, die von der Politik desavouiert worden ist. Erst dann hat die öffentliche Meinung umgeschlagen.

booklet: In Ihrem Buch richten Sie für jüngere Leserinnen und Leser den Fokus darauf, wie es jemandem geht, der als junger Mensch mit den Eltern aus einem Kriegsgebiet kommt. Wie es dem Mädchen geht, das versucht, in einer anderen Kultur anzukommen, das war schon Thema in „Dazwischen: Ich“. In „Dazwischen: Wir“ kommt die Erfahrung von Hass und Hetze dazu, nach der ersten Welle der Willkommenskultur. Ist das etwas, was unweigerlich immer kommen wird?
Rabinowich: Unweigerlich: nein. Möglich: ja. Es kommt stark auf die Politik an, welche Botschaften sie setzt. Welche Folgen Hetze hat oder auch nicht. Wie sehr sich die Hetzenden unterstützt fühlen von der Gesellschaft. Es kommt auf verschiedene Aspekte an. 2015 war eine große Hilfsbereitschaft da, die von der Politik desavouiert worden ist. Erst dann hat die öffentliche Meinung umgeschlagen. Was jetzt geschieht, wird stark davon abhängen, was die Antwort der Politik sein wird.

booklet: Kann man als Einzelne überhaupt etwas tun? Das ist eine Frage, die sich die junge Ich-Erzählerin Madina stellt, die zwischen Resignation und Kampfgeist hin- und hergerissen ist.
Rabinowich: In ihrem Fall kommt verschärfend dazu, dass sie Kriegsbrutalitäten erlebt hat, die Jugendliche und Erwachsene hier so nicht kennen. Das heißt, sie erkennt wie jeder, der so etwas erlebt hat, viel schneller die Zeichen der Zeit, die Bedrohung, die von den auf dem Hauptplatz Schreienden ausgeht. Ihre Freunde verstehen sie zuerst nicht, weil sie diese Wunden nicht haben und auch nicht diese Erfahrung, was passiert, wenn diese Spaltung weiter fortschreitet. Madina hat als Jugendliche gesehen, wie ein Land in Bürgerkrieg verfallen ist. Sie hat ein feineres Sensorium dafür, wenn sich solche Spaltungstendenzen zeigen. Auf der anderen Seite ist sie wegen ihrer Geschichte auch verletzlicher, bekommt sie schneller Angst, weil sie weiß, dass es sie bis in ihre Grundfesten bedrohen kann. Insofern machen Ohnmacht und Widerstand genau diese beiden Pole aus. Der Widerstand kann umso stärker werden, je mehr Menschen ihr zur Seite stehen. Es braucht viele Menschen, um den Vielen entgegenzutreten. Wichtig ist, dass auch Menschen aus der Gesellschaft, in der sie sich schon heimisch fühlt, aufstehen und sagen: Nein, nicht mit uns. Und dass sie selbst auch sagt: Nein, ich wehre mich jetzt.

booklet: Da gibt es eine starke Stelle, in der Madina am Gartentor steht und die Meute abwehrt, damit der Großmutter nichts geschieht.
Rabinowich: Das ist meine Lieblingsszene. Das war eine der ersten Szenen, die ich geschrieben habe.

booklet: Stark sind in diesem Buch die Mädchen und Frauen, die Männer sind abwesend oder müssen, wie der kleine Bruder Rami, beschützt werden.
Rabinowich: Ja, aber ich muss mich kurz für die Männer einsetzen: Der Kaffeehausbesitzer ist sehr wichtig, weil er als erster zu denen, die vor seinem Lokal rassistisch herumschreien, sagt: Verschwindet von hier, ich will euch nicht. Ihr seid nicht im Recht. Er taucht auch vor dem Haus auf, als es zur Belagerung kommt. Es war mir wichtig, ein gegenläufiges Bild zu zeigen. Auch Markus ist wichtig, er steht für weichere Männlichkeit.

booklet: Welches Wir sprechen Sie im Titel an?
Rabinowich:
Dieses Wir war für mich positiv besetzt: alle, die gesamte Gesellschaft. Die Gesellschaft steht bei diesem Thema dazwischen, es hat sich noch nicht genau gezeigt, wohin es gehen wird. Es könnte ein Wir sein, das auf dem Hauptplatz grölt, es kann auch das Wir sein von jenen, die sich denen entgegenstellen. Im ersten Band „Dazwischen: Ich“ war mir das Thema wichtig, wie Madina zwischen den Welten steht: zwischen sich und der Familie, dem neuen und dem alten Land, der Vergangenheit und der Zukunft, der Kindheit und der Pubertät. In „Dazwischen: Wir“ muss die Gesellschaft einen Transformationsprozess durchmachen und nicht nur Madina allein. Das Wir ist auch ein Wir im Sinn von: Es geht uns alle an.

Dazwischen: Wir - © Hanser
© Hanser
Literatur

Dazwischen: Wir

Roman von Julya Rabinowich
Hanser 2022
254 S., kart., € 17,50

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