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Quer durch Deutschland

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Was einem als erstes, von der bayrischen Grenze quer durch Deutschland bis hinauf in das bedrohlich übervölkerte Schleswig-Holstein, mit geradezu erschreckender Deutlichkeit offenbar wird, ist die Flüchtlingsfrage. Man muß den Gespächen in den überfüllten Eisenbahnabteilungen gelauscht, den erschütternden Aufmarsch der zehntausenden Heimatvertriebenen in dürftiger Kleidung, die Spuren des Leides in den Gesichtern, zur ersten Großversammlung auf dem Stuttgarter Schloßplatz mit eigenen Augen gesehen und miterlebt haben, wie Frauen und Männer bei dem Ruf „Wir gedenken der Toten“ in Erinnerung an überstandene Schrecken und die Opfer einer „fortschrittlichen“ Zeit fassungslos zu schluchzen begannen; man muß die Flüchtlinge in den vollgepferchten Dörfern von Bayern bis hinauf an die dänische Grenze, ihr dürftiges, verbittertes und nur zu oft hoffnungsloses Leben führen gesehen haben. Erst dann beginnt man die sonst unvorstellbaren Schwierigkeiten zu begreifen, die dem schwer heimgesuchten Land mit seinen zerstörten Städten und hunderttausenden eigenen Ausgebombten durch ein Diktat aufgelastet wurde. „Der kommende Friede wird nicht die Frucht einer Entscheidung sein, die der Mensch trifft. Er greift um sich wie eine Pestbeule“, schrieb Antoina

Saint-Exupery angesichts der Fliehenden auf allen Straßen Frankreichs. Wenn, dann trifft dieses schmerzlich bittere Wort des Dichters wie kein zweites auf die Entscheidung zu, durch die Millionen von Haus und Hof vertrieben wurden. Es geht hier nicht nur um eine lebenswichtige wirtschaftliche Frage, die aus eigener Kraft kaum je gerecht zu lösen sein wird, es geht um ein ebenso gewichtiges psychologisches Problem. Die Eingliederung, die über höchsten Befehl das Problem als solches zum Verschwinden hätte bringen sollen, ist fehlgeschlagen. Immer gereizter stellen die Zugewanderten aus ihrer Notlage an sich berechtigte Forderungen, die von den Einheimischen teils unter Druck, zu geringerem Teil nur aus Menschlichkeit, so recht und schlecht erfüllt werden, ohne daß sie jedoch als geschichtlich oder politisch gerechtfertigt angesehen würden. Denn daß zum Beispiel die Deutschen aus der Tschechoslowakei, aus Jugoslawien und Ungarn, die man allenfalls dem alten Österreich zugeordnet hätte, unter Zwang zu Reichsdeutschen gestempelt wurden, hat keinerlei Gefühl von Zusammengehörigkeit entstehen lassen. Es sind Fremde, die hier ein vorübergehendes Zuhause suchen. .Sie kennen nur ein einziges unerschöpfliches Thema, über das sie unentwegt mit zornigem Eifer reden: ihr Schicksal. Die meisten leben von der Hoffnung auf eine Rückkehr. Daher die Zerrissenheit, die Unruhe in ihrem Leben: in die verlorene Heimat zurückwollen, in der Fremde eine neue Heimat suchen müssen, Rechte und Ansprüche hier wie dort, und doch alles im Vorläufigen, im Ungewissen. Verträge, wie der jüngst zwischen den Gruppen der Sudetendeutschen und der Exilregierung des Generals Prchala abgeschlossene, bestätigen nur die Zwiespältigkeit ihrer Lage.

Die Arbeitslosigkeit unter der Flüchtlingsjugend und unter den Älteren von vierzig aufwärts ist groß. Allein in Bayern fehlen an sechzigtausend Lehrlingsstellen. Die „fünfte Kolonne der Not“ wächst in bedrohlichem Maße. Zwar enthält die in Stuttgart verlesene Charta der Heimatvertriebenen noch ein positives Bekenntnis zu einem geeinten Europa. Am gleichen Tage und am gleichen Ort aber erklärte auch der Erste Vorsitzende des Zentralverbandes der Heimatvertriebenen: „Wir bilden heute noch keineswegs radikale Parteien. Wenn aber unsere Stimmen weiter überhört werden, dann werden die Vertriebenen denen ihr Wort geben, auf die sie hundertprozentig bauen können, ohne Rücksicht darauf, ob sie damit den Boden der Wirklichkeit verlassen oder nicht.“ Das sind gefährliche Worte im Munde eines Bundestagsabgeordneten.

Sieht man ein wenig von dieser leicht alles übermächtigenden Last und Gefahr ab, dann kann man nur staunend wahrhaben, wie auf dem deutschen Trümmerfeld, das der Krieg so ziemlich auf allen Gebieten zurückgelassen hatte — zwar mit ausgiebiger fremder Hilfe, aber doch zum größeren Teil aus eigenem —, der schlimmste Schutt bereits weggeräumt wurde. Bei näherem Zusehen mag sich freilich manches als recht luftig und hastig aufgeführtes Provisorium erweisen, den langen Zeilen von neuen Verkaufsläden in den zerbombten Städten vergleichbar, deren geschmackvoll ausgebreitete Warenfülle alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, so daß man zunächst die Trostlosigkeit der dahinter aufragenden Ruinen gar nicht wahrnimmt. Bei den abendlichen Lichteffekten ist diese Illusion vollkommen.

Und das geistige Trümmerfeld? Diesem sogenannten Volk der Dichter und Denker eignet ein eminent nüchterner und praktischer Sinn, der sich nun, nachdem es von dem abgründigen Sturz ins Chaos halbwegs wieder zu sich gekommen ist, aufs beste bewährt. Westdeutschland gleicht einem wimmelnden Ameisenhaufen, wo zunächst einmal geräumt, gestützt und gebaut werden muß; alles andere hat vor dieser Notwendigkeit zurückzutreten. Zwischen zwei Arbeiten sozusagen schimpft man weidlich auf Bonn (ein demokratisches Parlament, das erst ein Jahr alt ist, ist noch zu jung, auch wenn nicht wenige erfahrene Parlamentarier darin sitzen), auf die Besatzung, die Bürokratie, die Steuern, auf dies und jenes — über was gibt es in dieser Welt nicht alles zu schimpfen! Die Einstellung der Mehrheit zur Politik gibt treffend die Karikatur eines Hamburger Wochenblattes wieder, die eigentlich gegen das Werben um die deutsche Wiederaufrüstung gerichtet ist. Der deutsche Michel steht als splitternackter Rekrut unter der Meßvorrichtung. Die eine Hand gebraucht er als Feigenblatt, mit der andern hält er sich die Nase zu. „Kerngesund“, stellt die alliierte Musterungskommission fest, „bis auf die volle Nase.“ Man hat die Nase voll gegenüber allem Politischen und Militärischen, mag es nun aus dem Westen oder gar in üblen Propagandaschwaden aus dem Osten herangezogen kommen. Die Folge ist, daß trotz der Radaubrüder von der extremen Rechten und Linken das Leben in Westdeutschland, alles in allem gesehen, in einer weniger überreizten, überpolitisierten Atmosphäre abläuft als anderswo. M

„Gedämpftes Selbstbewußtsein“, so mag man einen auffallenden Charakterzug bei den Deutschen von heute nennen. Der Sturz war zu tief, als daß er, bei aller Leichtlebigkeit und Vergeßlichkeit unserer Zeit, nicht Spuren im einzelnen wie in der Gesamtheit hinterlassen hätte. Der unleidliche Typ der „Großschnauze“ ist selten geworden, in Reinkultur kommt er überhaupt nur noch unter den'politi-schen Rattenfängern vor.

Kritische Geister aus Verantwortung und Selbstzucht, sie gehören bei allen Völkern zu den Besten, stellen bedauernd fest, daß die „große innere Erneuerung bei den Deutschen, wenigstens im ersten Ansturm des Schicksals, ausgeblieben sei. Die Mehrzahl lebe schon wieder so als seien normale Zeiten. Oberflächlichkeit, Genußsucht, die Freude am Tage, ein wenig eingeschränkt durch die Angst vor neuen Katastrophen, griffen um sich. Nun steht es darin bei der Mehrzahl der Deutschen gewiß , nicht besser und nicht schlimmer als bei ändern Völkern. Hier Kritik üben, hieße über eine ganze Epoche aburteilen. Aber nach einer Reihe von wirklichen Begegnungen und echten Gesprächen in diesen Sommertagen sei festgehalten: Es sind viele einzelne und Gruppen unter den Deutschen am Werke, die den inneren Sinn dieser Zeit erkennen, die sehr wohl wissen, was sie zu tun haben, um den Menschen durch die wüsten Widersprüche unserer Tage heil hindurchzubringen. Als gälten ihnen die Verse aus Alexander Lernet-Holenias Hymne „Germanien“, wenn er verkündet:

Denn es könnte sein, daß das Geschick euch nochmals erwählt, wie es euch oft erwählt hat, aber dann erwählt es andere und anderes aus euch, nicht mehr die Abgetanen und das Abgetane.

Dies ist der Aufruf des „Sozialen Friedenswerkes“, dessen Gründung der Fürsterzbischof von Salzburg, DDr. Andreas Rohrache r, am Samstag, den 26. August, in einer Pressekonferenz bekanntgab. Das „Soziale Friedenswerk“ wird in seiner Hilfstätigkeit nicht begrenzt sein durch parteipolitische, konfessionelle und nationale Schranken; die einzige Voraussetzung soll sein, daß ein wirklicher Notfall vorliege. Es wird aber beschränkt 6ein auf die Fälle, die nirgends anderswo Hilfe finden können. Es wird also die bereits vorhandenen Wohlfahrtseinrichtungen in nichts ersetzen, sondern nur ergänzen.

Was an der Deklaration des „Sozialen Friedenswerkes“ unmittelbar ergreift und vor jedem äußeren Erfolg wirksam sein wird, ist die edle und weite Menschlichkeit, die kühne Noblesse, mit der sich der Salzburger Kirchenfürst bereit zeigt, mit allen zusammenzugehen, die das Notwendige sehen und — aus ihrem christlichen Gewissen oder einer allgemein humanen oder patriotischen Verpflichtung heraus — tun wollen, in welchem Lager immer sie stehen oder standen. Alle Menschen guten Willens sind zur Mitarbeit und zum Mitopfer aufgerufen — und man darf erhoffen, daß die Glieder Christi, gedrängt von der Liebe Christi, sich nicht beschämen lassen werden vom Eifer jener, die diese Liebe noch nicht kennen. Ihr Mitleiden, Mitdenken und Mittun ist unersetzlich. Denn hinter der leiblichen steht die seelische Not. Die abweisenden Mauern der Selbstbehauptung verbergen Komplexe, Neurosen, Ressentiments, die in unheimlichen Verkrampfungen zurückgestauten Wasser falscher seelischer Reaktionen, die jederzeit, wieder hervorbrechend, neue politische Katastrophen hervorrufen können. Hier durch die Tat der Liebe eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen, diskret auflockernd, die Schwierigkeiten und Hemmungen auflösend zu wirken, ist die große geistige, sittliche Aufgabe jenes Friedenswerkes, das zu leisten uns noch weithin bevorsteht.

Joseph Grabner

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