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Das literarische Fin de siede

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DAS SPIEGELKABINETT. Erzählungen des Fin de ižele. Mit Illustrationen von Aubrey Beardsley. Herausgegeben von Wolfgang Behnt, Henry-Goverts-Verlag, Stuttgart, 1986. 303 Setten, DM 18.80.

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DAS SPIEGELKABINETT. Erzählungen des Fin de ižele. Mit Illustrationen von Aubrey Beardsley. Herausgegeben von Wolfgang Behnt, Henry-Goverts-Verlag, Stuttgart, 1986. 303 Setten, DM 18.80.

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„Fin de siėcle“ — Jahrhundertende! Dieser Titel eines heute vergessenen französischen Lustspiels von 1888 wurde zum geflügelten Wort, zur Bezeichnung eines besonderen Lebensgefühls und seiner künstlerischen Äußerungen im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Es war das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer überreifen, dem Untergang entgegengehenden Kultur, die vor dem Versinken noch einmal ihren Glanz aufleuchten ließ und doch schon überschattet war von der Schwermut des Abschieds. Vor allem in der Literatur hat diese Stimmung ihre Spuren hinterlassen und eine bestimmte Richtung hervorgebracht, die man auch als „Dekadenz“ bezeichnet, womit allerdings nur ein Teilaspekt erfaßt wird. Auch der sogenannte Symbolismus gehört in gewissem Sinne dazu: er öffnete vor allem der dichterischen Sprache neue Wege. Das geistige Erbe der alten Romantik lebte in zeitgemäßer Verwandlung wieder auf, als Gegenbewegung gegen den positivistischen Naturalismus, der den Menschen in seiner unentrinnbaren Determinie- rung durch das Milieu dargestellt hatte. Die Literatur des Fin de siėcle ist äußerst vielfältig und nicht leicht abgrenzbar; viele Autoren gehören der Dekadenz nur mit einem Teil ihres Werkes an. Für die einen war die Dekadenz ein schmerzvoll erlebtes persönliches Schicksal, für die anderen aber nur eine literarische Mode unter anderen.

Man wandte sich von der sozialen Problematik des Naturalismus ab und huldigte einem genießerischen Ästhetizismus und betontem Individualismus, der das „Odi profanum vulgus“ zum Leitspruch nahm. Kult der Schönheit und des Erlesenen, psychologische Verfeinerung der Charakterzeichnung und Stimmungsmalerei bis in die feinsten Nuancen, Vorliebe für das Ungewöhnliche, ja Pathologische, müde Resignation und geistreiche Skepsis, ein frivoler Amoralismus, den der Schauder vor Tod und Vergänglichkeit noch mehr aufstachelte, abseitige Nervenreize, aber auch Flucht in den vor allem ästhetisch erlebten religiösen Kult, in Mystik und Okkultismus — das simd die Merkmale der Fin-de-siecle- Literatur. In England war Oscar Wilde der glänzendste und genialste Repräsentant der ästhetischen Bewegung, er verkörperte jenes Dandytum, das in den Vorstellungen der Literaten von damals eine so große Rolle spielte. Sein Roman „Das Bildnis des Dorian Gray" war ebenso wie „A rebours“ von Huys- mans ein typisches Werk der Zeit. In diese Richtung gehört auch das 1894 in London begründete „Yellow Book“, dessen Illustrator Beardsley war. In Frankreich gab es sogar eine Zeitschrift mit dem Titel „Le Dėca- dent". Huysmans, Richepdn, Rollinat, Lorrain, Rėgnier, Schwöb, Remy de Gourmont, und nicht zu vergessen Robert de Montesquiou, der exzentrische Salonheld und Dandy, haben Werke geschaffen, die den Geist und die Stimmung des Fin de siėcle ausstrahlen. Marcel Schwöb hat diese in einer Erzählung treffend gekennzeichnet: „Wir lebten in einer ungewöhnlichen Zeit: Die Romanciers hatten uns alle Gesichter des Menschen und alle Hintergründe des Denkens enthüllt. Man war vieler Gefühle müde, ehe man sie überhaupt empfunden hatte; manche ließen sich vom mystischen Dunkel unbekannter Abgründe faszinieren; andere waren besessen von einer Leidenschaft für das Absonderliche und suchten sich immer neue Sinnesreize zu verschaffen: Wieder andere verzehrten sich schließlich in einem tiefen Mitleid, das sich auf alle Dinge erstreckte.“ („Das Opiumhaus.“)

Der Herausgeber des vorliegenden Bandes, der auch ein Nachwort schrieb, wollte das Besondere des literarischen Fin de siėcle in ausgewählten Erzählungen aus Frankreich und England deutlich machen. Von den 17 Autoren, die hier vertreten sind, gehören einige — wie Oscar Wilde, Anatole France und Henry James — der Weltliteratur an, andere Namen sind weniger bekannt und nur den Kennern geläufig. Leider erscheinen manche Erzählungen als zuwenig charakteristisch und auch ihr literarischer Wert ist sehr gering. So ist etwa der Beitrag von Leon Bloy nicht mehr als eine bloße Kolportagegeschichte. Dafür bieten vielleicht andere Geschichten für die Leser einen gewissen Anreiz, sich mehr mit den betreffenden Autoren zu befassen, zum Beispiel mit Henry Harland, Henri de Rėgnier oder Arthur Quiller- Couch, dessen Erzählung „Das Spiegelkabinett“ — eine Gestaltung des Doppelgänger-Motivs — dem Band dien Titel gab. Freilich haftet dem gesucht Morbiden mancher Prosastücke für uns Menschen von heute eine leise Komik an und sie sind uns nur mehr als literarische Zeugnisse einer versunkenen Zeit, des „farbenvollen Untergangs“, interessant. Jedenfalls hat das Fin de siėcle die Literatur thematisch und formal bereichert. Eine stimmungsvolle Ergänzung der Texte bilden die Illustrationen von Aubrey Beardsley.

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