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Der verschleierte Mann der Sahara

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Es ist erst wenige Jahrzehnte her, daß durch die Citroen-Expedition der Jahre 1922 und 1923 mit Hilfe von Raupenschleppern und mit ungeheurem Geldmittelaufwand die Gebiete der Sahara zum erstenmal maschinell durchquert wurden, und so danken wir es vor allem dieser mutigen Pionierarbeit einiger entschlossener Männer, daß die unendlichen Wüstengebiete und die himmelragenden Gebirge zwischen den blühenden Gärten Nordafrikas und den von Krokodilen bevölkerten Gestaden des Tschadsees heute nicht mehr in jenes Dunkel gehüllt sind, das selbst in unserem Jahrzehnt noch über so vielen Gebieten und Völkern des Schwarzen Erdteils liegt.

Früher galt eine Reise ins Innere der Sahara als ein Wagnis, das erst nach gewissenhaftesten Vorbereitungen und unter militärischem Schutz durchgeführt werden konnte. Zivil- und Militärkarawanen zogen monatelang die seit urdenklichen Zeiten benutzten Kamelpfade der Wüste von Brunnen zu Brunnen durch vollständig verlassene und wilde Gebiete, wo die Begegnung mit Menschen entweder zu einer ernstlichen Gefahr oder zu einer freudigen Überraschung wurde, falls man etwa auf ein Zeltlager befreundeter Stämme stieß, wo der Reisende endlich wieder neue Gesichter sah und eine Sprache hörte, die, wenn er sie auch nicht verstand, dennoch das Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit nahm.

Heute freilich hat es eine Privatgesellschaft zuwege gebracht, durch ihren gut eingerichteten Autobusdienst und durch Rasthäuser in der Wüste die unendlichen Sandgebiete und öden Gebirge samt den darin verstreut liegenden Militärposten dem Netz des geregelten Verkehrs einzugliedern und mit Hilfe der drahtlosen Telegraphie das Gefühl der Einsamkeit auf verlassenen Stationen auf ein Minimum herabzumindern.

So ist es heute schon fast vorbei mit der wilden Karl-May-Romantik des „verschleierten Mannes der Sahara“, des kriegerischen Tuareg der Wüste, der zu einem friedlichen Herdenzüchter geworden ist. Es ist vorbei mit den Sagengestalten um Antin a und ihre geheimnisvolle Felsenburg, denn der Autobus durchmißt in etwa zehn Tagen die Riesenstrecke vom Mittelmeer bis zum Nigerfluß oder dem Tschadsee, die zum Großteil durch Fels- und Sandwüste führt.

Und trotzdem: wer es versteht, abseits von der großen Verkehrsstraße dahinzuziehen und sich auf luftigem Kamelhöckersitz monatelang von Nomadenlager zu Nomadenlager schaukeln läßt, für den bergen die weiten Sandflächen und ragenden Gebirge der unendlichen Sahara auch heute noch unzählige Geheimnisse und interessante Tatsachen, von denen man sich im fernen Europa nichts träumen läßt; für den liegt auch heute noch über der Bevölkerung der Sahara jenes seltsame, undeutbare „Etwas", das nicht zuletzt durch die Eigenart des Tuareg selbst hervorgerufen wird, der den ganzen Raum der Sahara als „sein“ Gebiet bezeichnet und sich dort heute noch ebenso als Herr der Wüste fühlt wie vor hunderten Jahren.

Wer vermöchte aber auch so sicher von Wasserstelle zu Wasserstelle zu führen wie der Tuareg der Sahara? Wie sonst wäre es möglich, in acht bis zehn Tagen die vierhundert bis fünfhundert Kilometer langen wasserlosen Wüstenstrecken heil zu durchreiten, wenn nicht der Tuaregführer wäre! Für ihn ist die Wüste ein offenes Buch. Er liest in den Sternen ebenso sicher Zeit und Richtung wie an der Sonne und am Sand zu seinen Füßen. Er weiß genau, wann und wo jedes Sternbild am Firmament zu stehen hat, und wenn er dem Kompaß des Europäers scheinbare Bewunderung zollt, so ist das nichts anderes als ein bloßes Kompliment. Im Innersten denkt er bestimmt: „Wie bemitleidenswert doch diese Europäer sind, daß sie solcher Hilfsmittel bedürfen, um sich zurechtzufinden!“

Manches bei den Tuareg erinnert an Ägypten. Teils sind es sprachliche Eigenheiten, die auf die fernen östlichen Nachbarn hinweisen, teils aber sind es Motive und Ornamente an den von ihren Schmieden hergestellten Kunstgegenständen aus Silber und Kupfer, die ägyptischen Ursprung und Geschmack ahnen lassen. Überhaupt ist allen von den Schmieden der Tuareg hergestellten Metallarbeiten eines gemeinsam: sie sind von einer derartigen Feinheit und Genauigkeit und zeigen solchen Geschmack und

Geschicklichkeit in der Ausführung, daß man mit Recht von einer „Kunst" bei den Schmieden der Sahara sprechen kann.

Dabei wäre es übertrieben, die Tätigkeit der Schmiede als ernste Arbeit zu bezeichnen, denn in der Schmiedewerkstatt sitzen meist mehrere Schmiede um das kleine Feuer der Esse beisammen am Boden, sie arbeiten augenscheinlich wenig und plaudern viel lieber miteinander, schlürfen behaglich ihren geschätzten Tee und singen gern und viel, um sich die Zeit zu vertreiben.

Es sind die gleichen Lieder, wie sie die übrigen Tuareg der Sahara auch singen, meist alte Kampflieder, Liebeslieder, Weidelieder und Festgesänge, wie es ihnen gerade in den Sinn kommt: immer wieder die gleiche Folge von nur wenigen Tönen, meist mit erschreckend hoher Fistelstimme gekräht, wobei die einzelnen Silben, ja selbst Vokale, oft über mehrere Takte hinausgezogen werden. Recht primitiv und ursprünglich. So müssen die Bewohner der Sahara vor Tausenden von Jahren auch schon gesungen haben.

Am meisten werden vielleicht Festlieder heute gesungen, denn die Feste nehmen neben den früher üblichen Raubzügen den größten Teil im Leben der Saharavölker ein. Ich erinnere mich noch recht gut eines Festes in Tamanrasset, dem Hauptort des Hoggar- gebirges im geographischen Mittelpunkt der Sahara, anläßlich dessen gegen zweihundert Tuareg aus der Umgebung zusammengekommen waren: durchwegs schlanke, kräftige, vielfach über zwei Meter große Gestalten von heller Hautfarbe, edlen, scharfgeschnittenen Gesichtszügen und mit kühnen Adlernasen. Ihre Bewegungen sind würdevoll, fast theatralisch, das große Schwert und die Lanze tragen sie mit Grandezza und beim Kampfspiel mit Schwert und Schild. Beim festlichen Reiten um die wirbelnde Trommel schienen sie mir stets einer längst vergangenen Sagenwelt von Halbriesen zu entstammen, wenn sie auf ihren hochbeinigen weißen Renndromedaren phantasiereiche Figuren um die von den Frauen geschlagene Trommel ritten.

Am liebsten werden solche Feste nachts gefeiert, wenn die volle Mondscheibe hoch am Himmel hängt und die ganze Gegend wie in ein Silbermeer getaucht ist. Dann klatschen und trommeln die Frauen noch unermüdlicher als sonst, während die jungen Dromedarreiter wortlos auf ihren hohen, mit Silber beschlagenen Sätteln hocken und kein Ende finden, sich in ihren wertvollen Gewändern und kunstvoll gewundenen Gesichtsschleiern vor den bewundernden Blik- ken der Frauen zu zeigen und sich von ihnen bestaunen zu lassen..

Aber noch eine, nicht minder anregende Unterhaltung lieben die Tuareg der Sahara,

wenn die Sonne untergegangen ist und der unendlich klare Himmel sich über Sand und Fels der Wüste wölbt: das ist der abendliche „Ahal“, die gesellige Zeltunterhaltung auf Einladung der Frauen und der Treffpunkt der Tuareg beiderlei Geschlechts, die eine Nacht mit Tanz und Gesang und Rezitieren von alten Heldenepen verbringen wollen. Dazu kommen die vornehmen Gäste oft von hundert Kilometer entfernten Zeltlagern hergeritten und singen im Verein mit den einladenden Frauen bis in den nächsten Morgen hinein.

Überall gleichen die Tuareg einander in Sitten und Gebräuchen sowie in ihrem Äußeren in ihrer seit Jahrhunderten unveränderten Form, von In-Salah über den Hoggar, die Tanezrouft und Tenere bis Kano im Sudan, und von Timbuktu über den Tschadsee und den Fezzan bis an die ägyptir sehe Grenze. Die strenge Verschleierung von Kopf und Gesicht bei den Männern, während die Frauen unverschleiert gehen, ist eine jener Eigentümlichkeiten, die von ihnen ebensowenig weggedacht werden kann wie die aus unvordenklicher Zeit stammende Schrift, in der die Frauen dieses Kriegsvolkes als einziges der Erde bis auf unsere Tage ihre Lieder und Gesänge aufzeichnen.

Man muß es nur verstehen, die Augen richtig aufzumachen und ein wenig zu beobachten, dann treffen wir überall zwischen fremdländischen Eindringlingen aus dem Gebiet der Araber und Neger noch zahlreiche Musterbeispiele echter Tuareg, wir begegnen ihnen auf der „Baraka", am Zug durch die Wüste der Tanezrouft oder Tenere und finden sie bei ihren Herden und in den Zeltlagern nahe dem Wasserloch oder im Gebirge.

Woher die Tuareg eigentlich stammen, steht nicht fest. Die wenigen Reisenden, wie Barth, Nachtigall und einige Franzosen, die in früheren Jahrzehnten bis in die Sahara vordrangen, haben schon genug Phantastisches und nur zuwenig Positives über diese Wüstennomaden erfahren und uns überliefert. Ungezählte Hypothesen sind über ihre Herkunft aufgestellt worden. Einmal bezeichnet man sie als Nachkommen alter Ägypter, dann wieder, ihrer hellen Hautfarbe wegen und weil bei manchen Stämmen blondes Haar und blaue Augen häufig sind, als Abkömmlinge der Vandalen oder gar von Kreuzfahrern, die einst an die nordafrikanische Küste verschlagen wurden und als tatendurstiges Volk auf Kamelrücken nach dem Süden, in die heutige Sahara, vordrangen. Man suchte ihre Heimat auch im Norden Europas und im Kaukasus, auf den viele Stammes- und Ortsnamen hinweisen, und kommt doch nie zu einem befriedigenden Ergebnis.

Schade, daß dieses alte Volk schnell und sicher dem Untergang entgegentreibt. Bei einer zahlenmäßigen Stärke von etwas über 100.000 Seelen fehlt es diesen Wüstennomaden heute an einer ihnen gemäßen lebenserhaltenden Tätigkeit. Sie fügen sich nur schwer der neuen Zivilisation und verlieren langsam den alten Inhalt ihres Lebens.

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