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Die Strudlhofstiege

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Pista Grauermann, Hörer der Kon-sularakademie (früher „Orientalischen Akademie“), und Etelka Stangeier, die Schwester Renes, sind verlobt. Jagdhunde wurden die Hörer des ersten Jahrgangs der Akademie genannt.

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Pista Grauermann, Hörer der Kon-sularakademie (früher „Orientalischen Akademie“), und Etelka Stangeier, die Schwester Renes, sind verlobt. Jagdhunde wurden die Hörer des ersten Jahrgangs der Akademie genannt.

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Die Uhr zeigte ein Viertel nach drei, als Grauermann auf die Straße trat. Hier waren es zwei lebhafte Empfindungen, die sich gleichsam auf ihn stürzten, als hätten sie da gewartet: nämlich ein deutlich spürbares Verlangen nach irgendetwas Süßem, nach Creme oder Eis oder Indianerkrapfen oder ... Zweitens aber empfand Pista, auf dem Trottoir stehend, sogleich, daß es ein klein wenig kühler geworden war und etwas windig.

Davon sehr angenehm berührt, schritt er jetzt die Aiserbachstraße bergan, wissend, daß links oben an ihrem Ende sich eine große und gute Konditorei befand. Er blieb zunächst, nachdem er beim „Cafe Brioni“ um die Ecke gebogen war, auf der rechten Straßenseite; und hier w a r's, wo ein uralter Stadtteil fast

unvermittelt in den ansteigenden neueren überging, s o d a ß etwa eine schmale Gasse, in welche Grauermann blicken konnte, auf der Seite noch kleine, einstöckige Häuser hatte (wie jenes „Zum bläuen Einhorn“), weit überragt von den wenig schönen vielstöckigen Gebäuden gegenüber, die schon auf höher gelegenem Grunde standen. Bei der Markthalle oben, um welche, die Fahrbahn links und rechts sich teilte, setzte Grauermann auf die andere Seite über. Es war eine sehr belebte Kreuzung. Hier ging ein wenig W;nd, und die gewellten Säume der über den Schaufenstern des Zuckerbäckers breit ausladenden Marquisen flatterten dahin.

Er trat in den Schatten und in das Geschäft, wo es verführerisch duftete, und ging zwischen den kleinen weißen Tisch-

dien und Sesselchen auf einen Eckplatz zu, als er von einem Tisch unweit des einen Fensters begrüßt wurde. „Hab' dich schon gesehen, wie du über die Straße gekommen bist“, sagte Rene Stangeier lachend. Ein junges Mädchen mit tizianrotem Haar und einem sehr zarten durchsichtigen Teint saß bei ihm am Tische. Der Gymnasiast stellte alsbald vor: „Herr Grauermann — Fräulein Paula Schachl.“ Er sah blühend aus und schien einen Tag besten Wohlbefindens zu haben.

Grauermann nahm mit lebhaftem Vergnügen hier Platz, Rene gegenüber, so daß er vom Fenster abgewandt saß und nicht in die sonnige Straße blicken mußte, was ihm angenehm fühlbar war. Diese Begegnung erschien ihm wie ein Gewinn, ein amüsanter Treffer, den er hier in aller Stille gemacht hatte, und ganz allein. Für junge Menschen, sozusagen für „Jagdhiyide“, war in ihm ein besonderes Wohlwollen, von dem es schwer zu sagen ist, ob es aus seiner im Grunde gutmütigen Natur kam, oder daher, daß er selbst noch beinahe etwas Ähnliches

war oder — einfach au den ungeschriebenen Hausgesetzen der Orientalischen Akademie, wo eine gewisse, wenn auch standesgemäß süffisante Benevolenz allen jagdhundartigen Wesen und audi gegebenenfalls deren Affären und Liebesgeschichten gegenüber ebenso zum Schick und guten Ton gehörte wie die Frequenz der „Beiseln“, das Rauchen der „Deu-xicme“ oder das Tragen ausgehatschter Escarpins als Hausschuhe.

Im übrigen fiel ihm das Mädchen, mit welchem R?ne hier saß, als interessant auf, mindestens als sympathisch; und daß sie wirklich hübsch war in aller Bescheidenheit, wirkte wie eine unter solchen Umständen besonders erfreuliche Zugabe. In Grauermann regte sich der gastfreie Magyare, und weil die beiden vor schon leeren Glastellerchen saßen, ging er nach

rückwärts, um an dem strotzend aufgebauten Ladentisch zu wählen; bald war das kleine Tischlein hier überschwemmt von Eiscreme und Sachertorten mit Schlagobers, und die drei — die drei Kinder, warum soll man's nicht sagen, zusammengeweht unter dem heißen Himmel der sommerlichen Großstadt, ergaben sich einer Orgie von Süßigkeiten mit Grauermann als Animator, der, wenn schon einmal bei solchen seltenen Genüssen, sich auch keinerlei Zwang auferlegte. Rene hatte als erster genug und konnte wirklich nicht mehr weiter, während Paula, unter mancherlei gemeinsamem Gelächter mit Pista, sich von diesem Indianerkrapfen einreden ließ, weil er selbst noch welche haben wollte.

Es war eine jener barock gekräuselten Wellenspitzen des Lebens, die, beinahe schon in sich selbst zurückkehrend, ihre

eigene hohle Seite mit der Spitze berühren. Und jeder von den dreien mochte das spüren.

„Diese Gegend hier lieb' ich über alles“, sagte Stangeier. Sein Blick ging in unbestimmter Weise an Grauermann vorbei und lag draußen im Treiben der Straße, wo in kurzen Abständen immer wieder die Wagen hahe am Gehsteig entlang fuhren, die Aiserbachstraße bergan (damals wurde ja in Wien noch links gefahren) und auf die Kreuzung zu; dann und wann kam die Bewegung ins Stocken. Dies hier war der Weg ins Grüne hinaus, nach Grinzing und Sievering (und sie wären auch jetzt dort draußen gewesen, Paula und er, wenn nicht die Tante, bei der Fräulein Schachl wohnte, sie für den heutigen späteren Nachmittag noch einmal häuslich beansprucht hätte vor dem Urlaub — jedoch abends

wollte man sich wieder treffen und dann hinaus ins Grüne, Kühle, Atmende und in irgendeinem stillen Wirtsgarten sitzen unter den von Lampen angestrahlten Kuppeln des Kastanienlaubes). „Diese Gegend lieb' idi über alles“, sagte er, wie im Selbstgespräch.

„Kein Wunder“, bemerkte Grauermann galant, „weil Fräulein Paula hier wohnt.“

„Ja, natürlich“, antwortete Rene, und vielleicht etwas plump ein Nichtgedachtes allzu offensichtlich nachholend. „Aber es war schon früher so, bevor ich Paula gekannt habe.“

„Das war ein Vorgefühl“, sagte Grauermann.

„Sicher“, antwortete Rene mit unerschütterlicher Selbstverständlichkeit. „Ich war auch immer viel hier herüben, ohne daß ich im geringsten da etwas zu suchen gehabt hätte. Und so hab' ich Paula kennengelernt. Diese Gegend ist für mich immer etwas Besonderes gewesen ... hier mach' i c h's gut, hier seh' ich Möglichkeiten, hier ist das Leben, hier möcht' ich wohnen. Die Gärtenl Und daß es hier überall bergauf und bergab geht. Der weite Platz unten beim Bahnhof. Hier ein Zimmer haben, ganz einsam, und einer Tätigkeit hingegeben, denken, ein Tagebuch führen ...“

Während er so redete, den Blick immer draußen in der Bewegung der Straße, durch die große Glasscheibe des Schaufensters schauend in das herausgeschnittene Bild unter dem flatternden, gewellten, braunroten Saum des Sonnensegels, schob sich eine Erscheinung ins Viereck, ins Schaufenster, dessen Sinn solchermaßen hier ein wirklich umgekehrter wurde:

Durch die Dichte des Verkehrs an der Kreuzung für Augenblicke aufgehalten, stand ein nahe dem Gehsteig vorgefahrener Fiaker. Darin saßen, behaglich zurückgelehnt, ohne sich zu bewegen oder im Augenblick gerade miteinander zu sprechen, Etelka und der Regierungsrat Guys, der einen Spazierstock mit silberner Krücke zwischen den Knien hielt. Etelka trug Weiß und einen ebensolchen großen, halbdurchsichtigen Hut. Guys war in hellem Grau. Lautlos vorgerollt, reglos sitzend, jetzt schon wieder glatt weggezogen, hatten sie etwas von Wachspuppen an sich, da beide den Blick genau in die gleiche Richtung gewendet hielten.

Nur einen winzigen Augenblick lang, gleich nach dem Erscheinen des Fiakers auf der Bildfläche, erhob sich in Rene die Möglichkeit, daß der Wagen hier halten und das Paar etwa eintreten würde, um ein Eis zu nehmen — aber die Attitüde der beiden schloß das alsbald aus. Als zweites erst hatte Rene eine kurze Furcht, Grauermann könnte sich gerade jetzt zufällig umwenden.

Und er wandte; sich um (als ginge von Rene eine gerade dahin gerichtete Wunschkraft “aus, und nicht Ängstlichkeit!). Jedoch erst, als die Erscheinung wieder verschwunden war, eine Sekunde danach etwa. Er wandte sich flüchtig um (wie fein und prompt entnimmt die Apperzeption des Menschen aus dem Aug' seines Gegenüber, d%ß dieses, bisher unbestimmt blickend, nun in der gleichen Richtung ein Objekt gefunden habe!) und sogleich wieder zu Rene, ohne die Aufmerksamkeit dabei zu mindern, mit welcher er hörte, was der Gymnasiast sprach.

Denn dieser hatte seine Rede nicht im geringsten unterbrochen, seinen Tonfall nicht verändert. „Diese Vorstellungen begleiten mich hier in der ganzen Gegend“, sagte er, „und ich bin hier einfach besser, als ich im dritten Bezirk dort drüben bin, ich mach' es besser, ich mach' alles besser. Oft wirkt es schon, wenn ich nur an diese Gegend hier denke. An die Strudlhofsticge zum Beispiel. Das ist eine ganz geheimnisvolle Stelle. Wie sich diese Stiegen hinabsenken, wie aus einer neuen Stadt und ihren Reizen in eine alte und ihren Reiz. Eine Brücke zwischen zwei Reichen. Es ist, als stiege man durch einen verborgenen Eingang in die schattige Unterwelt des Vergangenen ...“

Er perorierte sogar besonders lebhaft und verhältnismäßig noch besser während Etelkas Erscheinen auf der Bildfläche und danach erst recht. Jetzt und hinten-nach begriff Rene, daß seine nur sekundenlange Furcht, Etelka und Guys könn-

ten hier eintreten oder Grauermann würde sich umwenden, zugleich den noch kürzer aufblitzenden Wunsch enthalten hatte: daß dem doch so sein möchte.

Er wandte den Blick zu Paula. An dieser Stelle erst riß das Redeband von seinen Lippen (während Etelka und Guys längst wieder glatt auf Gummirädern und mit trapp-trapp-trapp dahinrollten, im Luftzug von Wind und Fahrt). Er wandte den Blick zu Paula und sah in ihr Gesicht mit den etwas schräg stehenden Augen und den bleichen Schläfen im rötlichen Haar.

Die Strudlhofstiege! Ja, das war sie. Dieses Antlitz hatte den Stadtteil zum Hintergrund, den man sah, wenn man daran vorbeischaute: und dann bestätigte sich nur das Gesicht. Beide waren ein und dasselbe.

Hier entstand (so könnte man aus

einem Abstand sagen) ein Kontaktschluß zwischen Wahrheitssehnsucht und Romantik, die doch an sich gar nicht viel miteinander zu tun haben. Nun, immerhin: die zweite wird die erste menschlicher machen, daß sie nicht fanatisch und wie ein Knochen aus dem a b-magernden Leben stehe, und die erste wird die zweite mit einem frischen, bitteren Duft durchsetzen (wie ihn gewisse Herrenseifen haben) und sie damit vor rascher Putrefaktion bewahren, wozu diese romantische Substanz ja neigt. Beide können ganz gut miteinander leben. Aber wir müssen uns jetzt um Grauermann kümmern und nicht nur alles hinter seinem Rücken machen...

Aus dem Roman „Die Strudlhof stiege“, der im Herbst als österreichische Lizenzausgabe im Luckmann-V erlag erscheinen wird.

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