6534573-1946_09_06.jpg
Digital In Arbeit

Die Weltanschauung des Arztes

Werbung
Werbung
Werbung

Die Weltanschauung des Menschen formt sich aus den jeweils lebhaftesten seelischen und sinnlichen Erlebniseindrücken, die auf ihn Zeit seines Lebens einwirken. Beim Arzt ( sind es seinem Beruf entsprechend vor allem zwei Faktoren, die neben der für jeden Menschen in gleicher Weise bedeutsamen Art der Jugenderziehung zur Gestaltung seines Weltbildes beitragen: es sind dies die medizinisch-wissenschaftliche Ausbildung und der Einfluß, der sich vom Berufsobjekt, vom kranken Menschen also her, bewußt oder unbewußt geltend macht.

Die grandiose Entwicklung der Naturwissenschaften, die Anfang des vorigen Jahrhunderts einsetzte und heute noch vor unseren Augen mit potenzierter Geschwindigkeit in eine unbekannte Zukunft rollt, hat bald auch das gesamte Gebäude der Medizin revolutionierend umgestaltet, ja eigentlich erst richtig begründet. Der gesunde wie der kranke Organismus gaben den Forschern, die mit dem Rüstzeug der neuen physikalischen und chemischen Kenntnisse an die Probleme herantraten, ein Geheimnis nach dem andern preis. So gewann man gegen Ende des 20. Jahrhunderts den Eindruck, daß der Mensch, ja das Leben überhaupt nur aus Geheimnissen bestünde, die mit Mikroskop qnd Reagenzglas schließlich völlig entschleiert und den Blicken der erstaunten Welt dargeboten werden könnten. Das bedeutete nidits anderes, als daß die Menschen zu einem Stück Materie wurden, das seine Form einem besonderen Zusammenspiel von Naturkräften verdankte. Man erinnert sich des Wortes jenes französischen Anatomen, der angesichts des Auditoriums einen Schüler, der vor der zerlegten Leiche stand, pathetisch fragte: „Nun sagen Sie mir, wo ist die Seele?“ Die Seele aber, von der der Professor sprach, lag begraben unter einem Wust von Erfindungen und Entdeckungen. Der kranke Mensch war reines Objekt geworden, „ein Fall“, wie der kühle Fachausdruck lauter, der nur so viel Interesse ablockte, als sidi im Laboratorium abgewinnen ließ. Das Weltbild des Arztes zu jener Zeit ist demnach charakterisiert durch das Überwiegen der naturwissenschaftlichen Ausbildung, seiner Art nach ist es daher rein materialistisch.

Es wäre verlockend, des näheren den Weg zu schildern, auf dem sich allmählich eine Änderung in den Ansichten anbahnte. Hinter dem emsigen Forschen und Suchen tritt auf einmal wieder das Antlitz des Menschen hervor. Der leidende Mensch klopft an und findet den Pfad zum Herzen des Arztes. Das Studium der seelischen Zustände und Erkrankungen bildete die Brücke, die den Arzt wieder achten ließ auf das, was nicht meßbar und greifbar war am Kranken, auf das, was sich hinter der Miene, den Worten, den übrigen Gefühlsäußerungen des Patienten verbarg. Die französische Sdiule war zunächst führend: Namen wie Charcot, Liebault klangen auf, denen sich bald andere,auch Wiener anschlössen, die wie Hyrtl, Billroth, Adler und Freud, hochberühmt wurden. Wenn auch die Arbeiten dieser Männer sich methodisch und in ihren Grundvorstellungen ganz in naturwissenschaftlichen Bahnen — wie wäre das anders möglich gewesen — bewegten, so war damit doch vieles anders geworden. Der kranke Mensch selber war wieder zum Wort gekommen, er war wieder Subjekt geworden, dem neben der körperlichen auch eine geistig-seelische Qualifikation zukam. Das Verhältnis des Arztes zum Kranken wurde persönlich, wurde wieder getragen vom tiefen ethischen Impuls de? Helfens. Die Haltung des Arztes in dieser Periode kennzeichnet der vielzitierte Ausspruch des berühmten Wiener Internisten der Jahrhundertwende, Nothnagl: „Nur ein guter Mensch kann ein guter Arzt sein.“ Das Weltbild dieser Generation, das auch heute noch vorherrscht, ist eine Art veredelter Materialismus, ideologisch nicht konsequent und verschwommen, aber doch durchdrungen vom Respekt vor dem Geistigen, welche Deutung ihm immer zukommen mochte.

Daneben tritt in der Gegenwart immer deutlidier ein Arzttyp hervor, der auf Grund einer neuen psychologischen Wertung des Menschen sich einer Weltanschauung zuwendet, die auf dem Primat des Geistigen fußt. Er erkennt die Gültigkeit der naturwissenschaftlichen Methode in bezug auf den Körper restlos an, erblickt aber den Menschen als Ganzes in einer Schau, in welcher der Mensch kraft seiner seelischgeistigen Natur über das rein Materielle weit emporgehoben und in das Licht einer transzendentalen Welt getaucht erscheint. Gefördert wird diese Entwicklung durch die bittere Erfahrung des Bankrotts der materialistischen Weltanschauung, der sich im Titanenkampf der letzten Kriege enthüllte, und durch die Erkenntnis, daß das echte Berufsethos nicht auf einer unsicheren Basis, sondern auf einer im Absoluten verankerten Grundlage ruhen müsse. Was hat der Menschheit die Proklamation des lahristischen Humanitätsideals genützt? Sobald man grundsätzlich die Anschauung predigte, daß der Mensch nur ein höher organisiertes Tier sei, blieben derartige Verkündigungen leere Phrasen, die das Raubtier im Menschen nicht zum Schweigen zu bringen vermochten. So wendet sich der Blick des modernen Menschen jener Gestalt der Weltgeschichte zu, die die menschliche Natur wie niemand anderer erfaßt, ihre Würde unter den Menschen begründet und vor dem Himmel wieder hergestellt hat, Christos.' Sein Kommen feiert die lateinische Liturgie mit den Worten: Erschienen m die Güte und Menschenfreundlichkeit unseres Herrn. Auch das bedeutet die Proklamation eines Ideals, nur ist dieses im Gegensatz zur laizistischen Fassung eingebaut in eine Ethik, die auf absoluten Maßen ruht und jedem Absinken ins Gemeine entrückt ist. Welche Tiefung, welche Weihe empfängt das ärztliche Berufsethos, wenn es aus dieser Quelle gespeist wird! Der Gedanke, daß ärztliches Wissen zur Tötung Wehrloser, Schwacher and Kranker mißbraucht werden könnte, erscheint einer solchen Berufsauffassung unvorstellbar. Die Sorge um die Krankheit hingegen erfährt eine Erweiterung im Sinne einer Verantwortlichkeit für das Wohl des ganzen kranken Menschen. Es liegt auf der Hand, daß aus einem solchen Berufsethos sich weite erfreuliche Perspektiven für die leidende Menschheit eröffnen und für den Arzt die Möglichkeit von Problemen und Aufgaben resultiert, die für ihn wissenschaftlichen Gewinn bedeuten und seinem Stande zur größten Ehre gereichen.

Gleichzeitig aber bedeutet ein derartiger Wechsel im Weltbild der Medizin die Überwindung des Materialismus auf einem Gebiet, das zu den wichtigsten Sektoren der Gesamtkultur zählt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung