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Ein Mann mit Eigenschaften

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Ein lahr vor seinem Tode (am 15. April 1942) notierte Musil in eines seiner Tagebücher: „Ich bin der einzige Dichter, der keinen Nachlaß haben wird.“ 1936 nämlich hatte er bei einem Zürcher Verlag eine Sammlung kleiner Betrachtungen und Erzählungen unter dem merkwürdigen Titel „Nachlaß zu Lebzeiten“ herausgegeben. Aber heute wissen wir, daß Musil nicht nur einen der umfangreichsten, sondern auch der gewichtigsten Nachlässe besaß. Dieser befindet sich in der Obhut von Martha Musils Sohn in Rom und liegt in dem hier angezeigten umfangreichen Band vor.

Aus den 3 5 Kladden (die übrigens nicht chronologisch geordnet waren und Eintragungen aus 44 Jahren enthalten) hat der Herausgeber etwa die Hälfte des Textes ausgewählt. Dieser erste Teil des Nachlaßbandes beinhaltet im wesentlichen Material zu einer ungeschriebenen Autobiographie, die den Titel'„Leben eines Dichters zwischen 1880 und...“ bzw. „Abenteuerliche Reise eines Menschen durch die Jahre“ tragen sollte. Dieses Material geht fließend in die Vorstudien, Varianten und Selbstkommentierungen zu Musils Hauptwerk „Der Mann ohne Eigenschaften“ über (vergleiche „Die Furche“ vom 11. April 1953).

Nach den Tagebüchern die bis Seite 541 des vorliegenden Bandes reichen, folgen die Eintragungen „Aus einem Rapial und andere Aphorismen“, die Essays (über Fragen der Zeit, der Philosophie und der Aesthetik, der Literatur und des Theaters), dann einige Porträts, Ansätze und Materialien zu einem Selbstbildnis, Glossen über Sport und andere Gegenstände, essayistische Fragmente und schließlich vier Reden, darunter die berühmtgewordenen zur Rilke-Feier 1927 und „Ueber die Dummheit“.

Musil war ein kritischer und bis zur Selbstquälerei selbstkritischer Geist. Wer so streng mit sich uhd seinem Werk ins Gericht gegangen ist, der durfte es sich auch leisten, seine Zeit und seine Zeitgenossen kritisch zu glossieren. Musils Urteile waren oft Verurteilungen. Wem sie hart und ungerecht erscheinen, der möge in Rechnung stellen, daß dieser vollendete altösterreichische Kavalier sie für sich in sein Tagebuch eintrug, und daß seine letzten Jahre durch eine — bedenkt man Musils

Rang als Schriftsteller — fast beispiellose Erfolglosigkeit verdüstert waren.

Obwohl Musils Familie aufs engste mit fünf Bundeshauptstädten verbunden war, beanspruchte ihn, wie er einmai bemerkt, keine für sich. Er war für sie zu großstädtisch-mondän und universell. („Es war mir verwehrt, in Oesterreich ein Dichter zu werden.“) Aber auch die Deutsche Dichterakademie nahm ihn nicht auf, angeblich mit der. Begründung, er sei für einen Dichter „zu intelligent“. Einmal notiert er: „Ich habe Wien verlassen, weil Rot und Schwarz darin einig gewesen sind, in Wildgans einen großen Dichter verloren zu, haben.“ Nach bitteren Selbstvorwürfen kehrt er gelegentlich den Spieß um und schreibt: „Aber kann man mit diesen Leuten paktieren?“ Und an einer anderen Stelle: „Wenn ich bedenke, welche Erfolge ich mit angesehen habe: Von Dahn und Sudermann bis George und Stefan Zweig! Und da erklären sie es für Snobismus, wenn man das Publikum verschmäht!“ Sein eigenes Wesen charakterisiert Musil einmal als „melancholische Schwerflüssigkeit“, und für seine schriftstellerische Eigenart fand er die Kennzeichnung der „nervösen Breite“ (für die Kunst Thomas Manns übrigens die nicht weniger treffende der Hoch-bürgerlichkeit mit psychoanalytischem Seitensprung).

•Im „Mann ohne Eigenschaften“ hat Musil einen der großen Romane des untergehenden alten Oesterreichs geschrieben, das er mit der Liebe des Enttäuschten und mit der Leidenschaft des oft Gekränkten und Zurückgesetzten liebte. „Es ist nicht der böse Geist, sondern die böse Geistlosigkeit der österreichischen Kulturpolitik“, die er für vieles verantwortlich macht. Musil prophezeite nicht, daß das Bürgertum abgewirtschaftet hat, es könnte, so meint er, doch noch eine Kultur hervorbringen. Wohl aber möchte er zeigen, wie ungenügend es dafür vorbereitet ist. — Zwei Dinge gäbe es in seiner Zeit, gegen die man nicht kämpfen könne, weil sie „zu lang und zu dick sind, keinen Kopf und Fuß haben: Karl Kraus und die Psychoanalyse“. So rindet der Leser fast auf jeder Seite nicht nur einen Mann mit Eigenschaften, sondern auch mit sehr eigenen, riach-denkenswerten Meinungen und Urteilen.

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