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HOlle, heute

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Es stimmt so vieles nicht in unserer Gesellschaft. Diese hat eine bemerkenswerte Geschicklichkeit entwickelt, über ihre eigenen Schwächen, Laster und Abgründe hinwegzusehen, hinwegzuschreiten. Tausend falsche, fragwürdige Himmel versprechen der Film, die Vergnügungsindustrie, die billigen Groschenromane, die, immer noch, nahezu die einzige Lektüre vieler junger Mädchen und Frauen zu sein scheinen. Diese falschen Himmel und eine mit ihnen korrespondierende falsche „Lebenserwartung“ schaffen jene Höllen, von denen das uns vorliegende Buch berichtet. „Aber die Höllen“: Rilkes Seufzer mahnt uns zur Vorsicht. In einer Zeit, die durch verfaulende Eschatologien, durch falsche Endzeithoffnungen und Endzeitängste mitgeprägt wird, kann man nicht vorsichtig genug sein, dermaßen unbestimmt gewordene ehedem große, mächtige Bilder der Seele und des Glaubens auf dem Papier, im Wort zu beschwören. Hölle: Sie aber nennen es selbst hier immer wieder so, die armen und armseligen Opfer unserer Zeit, unserer Gesellschaft, ihrer falschen Hoffnungen und Sehnsüchte. Hölle nennen zumeist die Frauen hier, in diesem Zeugenbericht, ihre Ehe: die drei, zehn, zwanzig und mehr Jahre, die sie an der Seite von Männern „leben“ mußten, die ihnen eben sehr real das Leben zur Hölle machten. Der bekannte Wiener Stadtpfarrer Theodor Blieweis hat es gewagt, hier Selbstzeugnisse Geschiedener zu sammeln, zu Wort kommen zu lassen und sie zu analysieren in Hinsicht auf das, was sie über unsere heutige Gesellschaft aussagen. Österreich steht nach Dänemark an der Spitze der „scheidungsfreudigsten Nationen“ im freien Europa. In den Jahren 1948 bis 1957 wurden in Österreich mehr als zweihunderttausend Personen geschieden. „Die Ehescheidung ist in unserer Zeit leider bereits zu einer Massenerscheinung geworden, und es hat nicht den Anschein, daß die gericht-licnen Scheidungszahlen in naher Zukunft sonderlich sinken würden.“ Allzuleicht wird oft die Scheidung beantragt und bewilligt. Blieweis weist in diesem Zusammenhang auf ein Faktum hin: In der Bundesrepublik Deutschland wurden von den im Jahre 1950 eingereichten rund 100.000 Scheidungsanträgen weit mehr als 20.000 wieder zurückgezogen. Das ist „ein Zeichen dafür, daß so manche Anträge voreilig und überstürzt gestellt werden, aber auch, daß der Ehewille von außen her positiv beeinflußt werden kann“. Eben dahin zielt dieses Buch. Dieser tapfere Wiener Pfarrer weiß sehr genau, daß von den Gerichten, von einer Änderung der Gesetzgebung allein da Heil, nämlich die Sanierung unglücklicher Ehen, nicht zu erwarten ist. Gesellschaftsreform tut not. Es ist das Klima unserer zeitgenössischen Verhältnisse, das den Ehebruch und die Ehebrecher vielfach begünstigt, die daheim sitzende und sitzengebliebene Frau ohne Schutz läßt. Männer, die den ganzen lieben Tag im Berufsleben mit gepflegten anderen Frauen beisammen sind, während zu Hause die Gattin sich mit den Kindern abquält, sind einfach anfällig in diesem Sinne. Die Emanzipation der Frau, die, oft allein, um ihr Leben und ihr Brot kämpft, läßt sie nicht ganz selten zu einem nach Beute ausspähenden Triebwesen werden, wobei sie dann, auf der Jagd nach dem Mann ohne viel Skrupel gerade auch verheiratete Männer anvisiert. Erschütternde Zeugnisse für diesen Kampf der Frauen um den Mann sind in diesem Bande zu finden...

Sehr schadet dem Aufbau einer gesunden Ehe die verfrühte Eheschließung. Bei einer Untersuchung von 500 jungen geschiedenen Ehen in Köln wurde die Feststellung gemacht, daß ein erheblicher Teil ohne nennswerte Verlobungszeit, ohne ernstliche Prüfung geschlossen worden war. Dazu kommt die verlängerte Ehedauer. „Wir wundern uns — natürlich mit Recht —, daß heute gar nicht so selten sich Männer nach 25- und 30jähriger Ehezeit scheiden lassen und eine womöglich um 20 Jahre jüngere Frau heiraten.“ Das ist kein Privileg von Filmstars mehr, sondern harte, brutale Wirklichkeit, auch im Wien von 1960. Das menschliche Durchschnittsalter hat sich seit etwa 50 Jahren verdoppelt. „Männer mit 60 Jahren sind oft noch so vital und lebenshungrig wie ehedem mit 40 Jahren.“ Dazu kommen die immanenten Gefahren der Mußehe: „Es dürfte heute wohl schon soweit gekommen sein, daß die Mehrzahl — vor allem der jüngeren Brautleute — heiratet, weil bereits ein Kind im Kommen ist.“ Schweizer Untersuchungen haben ergeben, daß unter den gerichtlich ausgesprochenen Scheidungen von Ehen mit Kindern 40,5 Prozent Mußehen waren. Das Ende vieler Ehen ist bereits in ihrem Anfang vorbestimmt: unreife Menschen, und Menschen, die gar nicht wirklich zusammenpassen, heiraten aus diesen und jenen Gründen, die alle nicht ausreichen, Freude und Kraft für eine gesunde Ehegemeinschaft zu bilden.Genug des allgemeinen. Theodor Blieweis verliert sich nicht in langatmigen Betrachtungen und nicht in einem falschen und überheblichen Moralisieren, er läßt die Opfer unserer Zeit selbst ausführlich zu Wort kommen, sich über die Hölle aussprechen, die sie erlitten und die sie sich selbst bereiteten. Da kämpft eine Sechsundzwanzigjährige um einen Zweiund-sechzigjährigen und schleudert einer Gattin die Worte ins Gesicht: „No, jetzt hast ihn 30 Jahre gehabt, jetzt habe ich ihn“. Da entringt sich einer vielfach betrogenen Frau das Wort: „Seine Untreue machte mir nichts mehr aus, ich war froh, Ruhe zu haben und nicht wie ein Klo benützt zu werden.“ Da schreibt eine Frau, die sich zwanzig Jahre abgequält hat: „Glauben Sie mir, wir brauchen vor dem Osten gar nicht zu zittern, wir haben ihn längst unter uns. Denn diese Herren sind genau solche Diktatoren wie die großen politischen Diktatoren ...Glauben Sie mir, es gibt tausend Chruschtschows in Wien, die ihre Familien genau so tyrannisieren, wie die anderen ein ganzes Volk unter Druck setzen. Die Methoden sind ganz die gleichen, nur auf einen kleineren Personenkreis zugeschnitten...“ Man mag diese Analogie einer Frau aus unserem Volke für falsch, primitiv, vulgär halten, was sie meint, ist Wirklichkeit. Sie selbst schreibt: „Wenn man da nicht einen Herrgott hätte, wäre die Hölle komplett.“ Wie viele Höllen sind aber „komplett“, da der christliche Glaube nie da war oder längst verkümmert und ausgeronnen ist.

„Winter in Wien“: so hat Reinhold Schneider, der deutsche Dichter und Seher, den letzten Bericht seines Lebens genannt, über das, was er an Abgründigem im Menschen, in der Zeit, in der Welt mit seinem inneren Auge im letzten Jahr seines Lebens in Wien wahrnahm. Höllen in Wien: die kann man kennenlernen, an Hand der Berichte dieses Buches von Blieweis. Pflichtlektüre sollte es zumindest für jene vielen Menschen sein, die diese Nachtseite unserer Wirtschaftswunderwelt mit viel Geschick übersehen.

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