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Jugend unterwegs

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EINST KAMEN SIE ZU FUSS, mit Wanderschuhen und Rucksack, und waren froh, in der Jugendherberge einen Strohsack zu finden.

Heute kommen sie mit der Bahn oder per Autostopp und finden es selbstverständlich, warm zu duschen und auf einem sauberen Leintuch zu schlafen.

Zwischen einst und heute liegen wenige Jahrzehnte. Jahrzehnte, in denen sich, trotz Krieg und Nachkriegszeit, das Jugendherbergswesen aus bescheidensten Anfängen entwickelt und über die ganze Erde verbreitet hat.

Die jungen Leute von heute seien su bequem, und die modernen Jugend-

Herbergen paßten sich dieser Bequemlichkeit unklugerweise an, das behaupten die einen. Wo bleibt die Abhärtung? Wo bleibt die erzieherische Wirkung des Jugendwanderns? So fragen sie.

Da fahren doch manche, und ihre Zahl ist gar nicht so gering, tatsächlich mit dem Auto vor! Mit billig gekauften, klapprigen, alten Autos bummeln sie durch Europa, von einer Jugendherberge zur anderen. Den Jugendherbergsfunktionären „alter Schule“ gefällt das gar nicht. Was hat, so fragen sie, Autofahren mit Wandern zu tun? Jugendherbergen sind für Wanderer da. Und nicht für Autofahrer. Autofahrer gehören ins Motel.

In Deutschland und in der Schweiz ist man in dieser Hinsicht konsequent. Dort wird, wer mit dem Auto kommt, von den Herbergsvätern abgewiesen. Unbarmherzig.

Weshalb sich so mancher junge Weltreisende von einem Autofahrer in einen biederen Rucksackwanderer verwandelt, wenn er die Grenze nach Deutschland oder der Schweiz überschreitet. Nicht, daß er seinen Wagen an der Grenze stehenließe, so unvernünftig ist er nicht. Er parkt ihn einfach in sicherer Entfernung, nimmt den Rucksack aus dem Kofferraum und pocht als biederer Wanderer ans Herbergstor.

Die Jugend hat keine Ehre und keine Muskeln mehr, das folgern daraus die einen.

Die anderen aber, die zeitgemäß Denkenden, sagen: Ist die eiskalte Dusche im Waschraum wirklich von erzieherischem Wert? Für viele ist sie einfach ungesund, weil sie sich dabei verkühlen. Kann man jungen Menschen, die oft genug bereits im Beruf stehen, zumuten, daß sie ihren viel zu kurzen Urlaub als Asketen verbringen? Und last not least — ist es nicht ihr gutes Recht und durchaus vernünftig, wenn sie möglichst viel sehen wollen? Zu Fuß kommt man nicht weit. Wer die völkerverbindende Mission des Reisens preist, muß den jungen Menschen auch das Auto erlauben — oft kommt es per Saldo billiger als die Bahn.

Weshalb man in Österreich, so wie auf der ganzen Welt außer Deutschland und der Schweiz, vor jeder Jugendherberge mit dem Auto vorfahren darf.

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ZWEI NEUE HERBERGEN wurden erst vor ein. paar Wochen in Bad Aussee und in Kaprun eröffnet. Der Abstand zu den Strohsack- und'Kaltwasserherbergen der Vergangenheit ist groß. Heute hat jede neuerrichtete Jugendherberge etwas von einem Gästehaus an sich, was sie ja auch ist.

Einige ganz bestimmte Dinge sind es, die der Jugendherberge ihr unverwechselbares Gepräge geben, nach wie vor.

Der gemeinsame Schlafraum mit den paarweise übereinanderstehenden Stockwerksbetten ist das wichtigste Kennzeichen. Die Säle wurden allerdings kleiner, acht bis zehn Burschen oder Mädchen pro Schlrafraum, das betrachtet man beim Bau neuer Jugendherbergen heute als den optimalen Kompromiß zwischen Wirtschaftlichkeit und Komfort.

Tagsüber werden die Schlafräume abgeschlossen, wer weder abreist noch eine Wanderung — oder einen Stadtrundgang — unternimmt, findet einen gemütlichen Aufenthaltsraum. Es gibt aber auch noch Jugendherbergen, die tagsüber ganz zugesperrt werden.

Modernst eingerichtete Küchen mit „allen Schikanen“, vom Butterportionierer für das Frühstück über die große gußeiserne Kippbratpfanne bis zur Geschirrwaschmaschine, sind in neuen Jugendherbergen eine - Selbstverständlichkeit. Der Personalmangel schafft auch in der Jugendherberge schwer lösbare Probleme. Die laufenden Kosten müssen möglichst niedrig gehalten werden. Der Bau wird in erster Linie von der öffentlichen Hand finanziert, erhalten müssen sich die Jugendherbergen selbst, das heißt von dem, was sie einnehmen.

Und das ist nicht viel, denn die Jugendherberge ist auch in der Zeit allgemein steigender Preise, allgemeiner Verschwendung, allgemeiner Werbung für das Prinzip „Für mich ist das Teuerste gerade gut genug“ ein besonders billiges Quartier. In Österreich bewegen sich die Nächtigungs-preise zwischen sechs und höchstens 15 Schilling.

Einzige Voraussetzung für die Aufnahme: man muß Mitglied irgendeines nationalen Jugendherbergsverbandes sein. Österreichische Mitglieder zahlen, nach Altersgruppen gestaffelt, zwischen 15 und 40 Schilling im Jahr.

Eine Altersgrenze nach oben gibt es nicht. In den Jugendherbergen ist jeder willkommen, der sich jung fühlt — eine Dame aus England, die vor einiger Zeit in der Jugendherberge von Schladming auftauchte, fühlte sich auch mit 82 Jahren noch nicht zu alt.

Zwei Länder machen da eine Ausnahme, es gibt hier eine Grenze. Wer in den Jugendherbergen Bayerns und der Schweiz absteigen will, darf wirklich nicht älter sein als 25 Jahre.

KURZ NACH DER JAHRHUNDERTWENDE begann das Jugendwandern und das Jugendherbergswesen.

Es ist die modernste Fortsetzung einer alten europäischen Tradition — unser Kontinent war immer schon von einem reiselustigen Menschenschlag bevölkert. Ob sich diese Reiselust nun in den ausgedehnten Reisen frühchristlicher Missionare ausdrückte oder im unsteten Leben mancher abendländischer Herrscher, die ihr halbes Leben „unterwegs“ verbrachten. Oder in den „Bildungsreisen“ der jungen Herren aus den guten Häusern des achtzehnten Jahrhunderts. Direkte Vorfahren der heutigen Jugendwanderer sind die reisenden Scholaren, die einst von einer Universität zur anderen zogen, ohne mit der „Anrechnung“ der an verschiedenen Universitäten verbrachten Semester den heute üblichen Kummer zu haben, und die Handwerksburschen früherer Zeiten, denen die Wanderjahre als Teil ihrer beruflichen Ausbildung bindend vorgeschrieben waren.

Dieser schöne Brauch geriet leider in Vergessenheit.

Dafür gab in den Jahren nach 1900 ein junger Dorfschullehrer im Sauerland den Anstoß zu einer neuen Form des Reisens: zum Jugendwandern. Er wollte vor allem der Arbeiterjugend des Ruhrgebietes helfen. So ging er mit seiner Schulklasse auf ausgedehnte Fußwanderungen, improvisierte in seinem Klassenzimmer Strohsacklager für junge Wanderer aus fremden Ortschaften und errichtete schließlich, auf der Burg Altena, die erste ständige Jugendherberge der Welt.

Was aus seiner Idee geworden ist, konnte Richard Schirrmann noch selbst erleben — er starb vor nunmehr genau einem Jahr im Alter von 87 Jahren.

Obwohl der Internationale Jugendherbergsverband erst im Jahr 1932 von einem runden Dutzend nationaler Verbände gegründet wurde, gibt es heute keinen Kontinent mehr ohne Jugendherbergen, abgesehen von der Antarktis. Es gibt nunmehr 14? Jugendherbergen in Österreich, 723 in Deutschland, 3813 auf der ganzen Welt. Die Mitgliederzahl der Verbände hat einen Stand von zweieinhalb Millionen erreicht.

600.000 Übernachtungen zählten die österreichischen Jugendherbergen im vergangenen Jahr, damit stehen wir in der internationalen Jugendherbergsstatistik an dritter Stelle. Zum erstenmal ist nunmehr auch im Budget ein Posten für die Errichtung von Jugendherbergen vorgesehen.

Wobei die Baukosten für eine moderne Jugendherberge mit denen eines billigen Hotels verglichen werden können.

Die beiden neuen österreichischen Jugendherbergen sind „Patscherlherbergen“, was bedeutet, daß die Schlaf- und Aufenthaltsräume nur ohne Schuhe, in leihweise erhältlichen „Patscherln“. betreten werden dürfen.

In mancher Hinsicht wird noch experimentiert.

In Bad Aussee zum Beispiel sind die Kleiderkästen im Keller untergebracht. Man kann also auch tagsüber, wenn die Schlafräume abgeschlossen sind, sein Gepäck erreichen. In den Schlafräumen aber ist, es lebe die Sparsamkeit, kein Kleiderhaken und kein Plätzchen zum Ablegen vorgesehen.

In Kaprun hat jeder seinen Kleiderkasten neben dem Bett stehen, eine Regelung, die erfahrenen Herbergsbesuchern sehr begrüßenswert erscheint.

DOCH ABGESEHEN von architektonischen und anderen Eigenheiten sind die Unterschiede zwischen den Jugendherbergen heute gering. Ob in Norddeutschland, in Bayern, im Salzburgischen oder in Sizilien, die alten Jugendherbergen ohne Komfort haben ebenso ihr unverwechselbares Kolorit wie die modernen mit Warmwasser und Zentralheizung. . Auch die Gäste sind ja die gleichen, teilweise sogar dieselben. Sie kommen aus Deutschland und aus England, aus Australien und aus den USA, aus Ceylon und aus Nordafrika. Wenn es irgendwo gelungen ist, das reibungslose Zusammenleben der Nationen und Rassen zu verwirklichen, dann in den Jugendherbergen. Wenn man irgendwo sonst als auf einer internationalen Konferenz so viele Sprachen hört, dann dort.

Diesem erfreulichen Zug, der großen internationalen Reisewelle der jungen Menschen, fällt auch der nationale Zopf des allzu biederen und allzu ausschließlich auf das Wandern zu Fuß ausgerichteten Herbergswesens früherer Jahre langsam, aber sicher zum Opfer, soweit er noch nicht abgeschnitten wurde.

Unter dem Motto der Völkerverständigung und der Verbrüderung gehört vor allem für den Studenten unserer Zeit die ausgedehnte Auslandsreise im Sommer, mit wenig Geld und wenig Komfort, heute zum guten Ton.

Wenig Geld, das bedeutet: mit einem uralten Auto oder per Stopp.

Wenig Komfort, das bedeutet: per Dutzend im Schlafsaal, aber wenn möglich doch warme Dusche.

Manche nehmen nur Blue jeans auf ihre Reise mit. Manche haben den dunklen Anzug fürs Theater im Handgepäck.

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