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Lärm und Antilärm

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Immer dringlicher und entschiedener werden die Stimmen, die die Bekämpfung des an vielen Orten unerträglich gewordenen Lärms fordern. Bisher waren es Einzelne — einsichtige Privatpersonen, Zeitungen, Stadtverwaltungen usw. Nun ist in San Remo die erste Antilärmkonferenz zu einer Arbeitstagung zusammengetreten. Daß dort nicht „blinder Lärm gemacht, sondern wirksame Abwehrmaßnahmen beraten wurden, scheint durch die Teilnahme nicht nur von Lärmfachleuten, wie Toningenieuren, Physikern und Ärzten, sondern auch von Rechtsanwälten und Männern der Praxis und des öffentlichen Lebens, wie der Direktoren der Ford- und der Fiat-Werke sowie der Bürgermeister von Brüssel und Tokio, gewährleistet.

„Die österreichische Furche

Seit 25 Jahren besteht die staatliche Versuchsanstalt für Wärme- und Schalltechnik am Technologischen Gewerbemuseum in Wien; ihre Gesamtlebensdauer aber beläuft sich auf 70 Jahre. Sie existiert also bereits seit 1882. Hat man schon damals geahnt, welche Qualen uns der Lärm, speziell aber der Lärm der Technik, würde bereiten können? Leider wurde dieses wichtige Institut nicht mit einer wirkungsvollen Exeku-

tive ausgestattet, auf daß Nerven- und Widerstandskräfte des von der Technik geknechteten Menschen geschont würden.

Machen wenigstens wir uns — wenn schon die Behörden es oft zu vergessen sdieinen — mit einigen Zahlen und Begriffen dieses Instituts vertraut, damit wir (übrigens nicht zum erstenmal) erkennen, wie klar doch in der Theorie ausgesprochen werden kann, was in der Praxis absolut mißachtet wird. Mit der „Hörschwelle", über die keiner so rasch stolpert, da sie erst die unterste Grenze der Hörempfindung darstellt, beginnt es, und mit der „Schmerzschwelle" sind wir beinahe „am Rande". — 20 Phon entsprechen einem Geflüster: wissen wir aber nicht sehr gut, wie lebhaft uns in entsprechender Verfassung „nur ein Ge-

flüster“ auf die Nerven fallen kann? Der Durchschnittsstraßenverkehr wird mit 40 Phon gemessen, ein gewöhnliches Zimmergespräch mit 60. Ertönt ein Boschhorn durchdringend, so muß sein „Lärmwert" bei 90 Phon liegen, nur zehn mehr als ein über Zimmerlautstärke plärrender Radioapparat zu produzieren fähig ist. Beobachtet man aber außerdem, wie willkürlich und launenhaft manchmal Hupen gehandhabt werden, so fragt man sich, warum man ihre Betätigung nicht verbietet oder auf ein Mindestmaß reduziert. Das wäre ein erster, freilich völlig unzureichender Schritt auf dem Wege der Lärmbekämpfung. Motorräder, die ohne Schalldämpfer fahren (dürfen denn die Polizei zeigt nicht mehr als ein gütig - verstehendes Lächeln), erreichen 110 Phon, und der Kesselschmied in der Nachbarschaft bringt es auf 120. Damit bleibt er hinter dem König der Lärmmacher, dem donnernden Flugzeugmotor, nur um 15 Phon zurück.

Mit den letztgenannten Zahlen sind wir bereits mitten in der Schmerzwelle. Und wie oft am Tage sind wir mitten drin! Ohne es eigentlich sein zu müssen.

Schopenhauers „Parerga und Paralipo- mena“ enthalten ein Kapitel „über Lärm und Geräusche“. Es ist auch heute noch lesenswert, selbst wenn Schopenhauer nicht viel Irritierenderes aus seinem Zeitabschnitt anzuprangern findet als Klopfen, Hämmern und Rammeln und — das Knallen gedankenloser Kutscher mit der Peitsche. Ach, wenn er gewußt hätte !

Schopenhauer dachte noch, der geistige Mensch allein leide unter dem Lärm. Man kann diesen Gedanken nicht von der Hand weisen, aber vielleicht läßt er sich später noch ergänzen Gewiß, speziell die Denkarbeit wird durch den Lärm zersplittert, so wie Schopenhauer eben die Sache mit einem großen Diamanten vergleicht, der — in einzelne Teile zerschlagen — nicht mehr die wertvolle Seltenheit darstellt, die er vorher war, sondern nur noch dem geringeren Wert einer Vielzahl kleiner Steine gleichkommt. Die letzte große Konzentration also,’ aus der das geniale Aufblitzen hervorbrechen könnte, geht verloren. Die Leistung bleibt aus. Der Mensch, auf solche Weise abgedrängt vom Optimum, wird unzufrieden, die krachmachende Menschheit selbst betrügt sich um das Ergebnis wissenschaftlicher Arbeit.

Hat es nun einen Zweck, sich allen Ernstes damit zu trösten, daß Genies heute sowieso immer karger gesät seien, und daß infolgedessen auch ruhig Krawall gemacht werden könnte — Ver- allgegenwärtigung des Randalierens von Vandalen — ja, wie denn? — in einem „Kulturstaat" Um das Alarmzeichen aber noch schärfer zu geben, bediene ich mich des Satzes aus Frank Thieß’ „Reich der Dämonen", daß nämlich eines Tages ein sich sanft auf einer durch und durch überlasteten Brücke niederlassender Vogel ausreiche, sie zum Einsturz zu bringen. Die Brücke der Leistungsfähigkeit der Menschen in unserem Fall. Wir sind nicht weit davon entfernt.

In vielen Teilen der Erde hat man dies erkannt. Energisch ist man eingeschritten, hat in gewissen Städten generell Signalverbot erlassen, was außerdem automatisch zu einer Verminderung des Verkehrstempos geführt hat, und ist mit schärfsten Strafen gegen Verkehrs- und Lärmsünder vorgegangen. Ja, iH Wien geht das nicht Warum eigentlich nicht? Wozu einen Burschen schonen, der Vergnügen daran findet, nach Ankauf eines Motorrades zuerst einmal den Schalldämpfer abzumontieren, um aller Welt zu zeigen, wie stärkend für einen überspitzten Geltungstrieb es ist, mit Gesdioßsalvenrattern durch enge Gassen zu jagen?

Aber was ist ein Motorrad! Menschen, die das Unglück hatten, in der Nähe des Wiener Heumarktes eine Wohnung zu finden, wurden über den Sommer zu reizbaren Leuten. Lassen wir vorerst die

Kultur beiseite daß nämlich mitten in das Pianissimo einer Symphonie hinein, die im Konzerthaus gegeben wird, plötzlich das tierbafte Gebrüll und Gejohle einer von Ringern und Veranstaltern fanatisierten Menge dringt, ab und zu gesteigert durch das krachende Kleinholzmachen aus Tribünenbänkem Im Augenblick nehme ich die Kultur nicht in Schutz, sondern nur den Menschen und sein Reservoir, aus dem er Erholung, Entspannung und Kraft für seine Lebensaufgabe schöpfen sollte. Und das Reservoir ist die Ruhe.

Die Ruhe, ja! Und will der Gequälte 6ie sich dann nehmen, so sieht das folgendermaßen aus: Er faßt den Entschluß, „hinauszufahren“. Faktisch tun muß er es mit den Verkehrsmitteln unserer Stadt. Als Abschiedsgruß und inferna- Esche Rückerinnerung an seinen Entschluß zur „Flucht aus dem Lärm" kreischen ihm die Straßenbahnbremsen ins Ohr. > Je nachdem; manchmal kreischen sie, manchmal fressen sie sich donnernd fest und erschüttern den ganzen Wagen. Was tun die Verkehrsbetriebe dagegen? Egal! Bald ist er draußen und hat seine Ruhe.

Ja, hat er sie wirklich? Er geht ein Stück und legt sich in den Waki Nun gut, wir leben im Zeitalter der Technik und der Abzahlungen. Jeder, der will, kann heute ein Kofferradio oder ein Koffergrammophon besitzen. Er kann sie besitzen und mit 90 Phon durch den Wald schmettern lassen, sofern er ein kulturloser, undisziplinierter Mensch ist

Es ist nicht neu, daß der Mensch, je primitiver, desto mehr egozentrisch orientiert ist. Und hierhin gehören all die Ungezogenheiten und Rücksichtslosigkeiten, mit denen Menschen von Menschen vergewaltigt werden.. Wollen die Behörden nichts dagegen tun? Wollen sie weiter Propagandalautsprecherwagen genehmigen, aus denen sich die Bürger der Stadt — noch dazu undeutlich und verzerrt — absolut keine Neuigkeiten, sondern die hinfälligsten Slogans in die Ohren gellen lassen müssen? Wollen sie weiter dulden, daß manche Hausbesitzer in den Vororten so tun, als hörten sie ihren Hund nicht bellen? Stundenlang nicht? Dulden, daß aus offenen Fenstern bei größtmöglicher Lautstärkeeinstellung ganze Straßenzüge lang unerwünschte Konzerte dröhnen?

überträgt man nun aber Ursache und Wirkung vom einzelnen Symptom auf das öffentliche Leben im erweiterten Sinn, so steht man verblüfft vor erschütternden Zusammenhängen, die alle nichts anderes als Unerzogenheit, Präpotenz und Rücksichtslosigkeit des Menschen zur Grundlage haben. Letzten Endes aber immer zum eigenen Schaden.

Vergessen wir zum Abschluß nicht das gute Beispiel aus dem englischen Wahlkampf: Eine der beiden großen

Parteien hatte Lautsprecher an allen vier Ecken eines großen Platzes aufgestellt und ließ ihr Programm dröhnend abbrüllen und -trompeten. Die zweite be- gegnete dem auf elegantere Weise. Sie zog quer über die Stirnseite des Platzes ein Transparent: „Deeds are stronger than words!“ (Frei übersetzt: Taten sprechen lauter als Lautsprecherl)

Einem Kulturstaat sollte es nicht schwerfallen, diese — übrigens allgemeine — Lebensregel nach und nach zu verwirklichen, seinen Bürgern mit gutem Beispiel voranzugehen und die Unerzogenen zu würdigen Mitgliedern einer höheren Gemeinschaft umzubilden.

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