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Mein autologisches Institut

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Das Haus, in dem das Institut untergebracht ist, hat zwei nach außen klar gegliederte, bewußt getrennte Hauptfronten und Pforten. Ein Teil ist für fußgehende, der andere für motorisierte Gäste eingerichtet. Besuchen wir zuerst den Fußgehertrakt. Sobald wir durch die gläsernen Flügeltüren die große Halle betreten, glänzt uns von der Stirnwand eine lichtbestrahlte Schrift mit goldenen Buchstaben entgegen:

„HUMANITAS"

das Leit- und Lotwort unseres Instituts.

Die freundlichen Studienräume und Hörsäle sind leicht auffindbar; im Gegensatz etwa zur Wiener Universität, wo auch der Unterrichtsbetrieb anders als hier geartet ist. Das autologische Institut gehört zu keiner Universität magistrorum et scholarium, keiner Körperschaft strenger Gelehrter und ihnen verpflichteter Famulis. Da gibt es keine mit ahgstzitternden Gliedern auf Rigorosen wartende Hörer. Ein Hauch neuen Geistes weht wohlig durch die blanken Räume. Sie dienen der dringlich gewordenen Aufgabe, dem in unserer Zeit ungeheuer wachsenden unheil-gefährlich-wirrig-schädlichen Straßenverkehrs mit den Werkzeugen der Wissenschaft entgegenzuwirken.

Hierzu verwenden wir unter anderem komplizierte Meßgeräte, die das Befinden des Menschen, Lust, Unlust, Freude, Aerger haarscharf registrieren.

Eine beliebige Probe zum Beispiel:

Ein Besucher bekommt eine Denk- oder Rechenaufgabe. Die zur Lösung der Aufgabe gebrauchte Zeit wird gestoppt, das Befinden des Menschen wird graphisch dargestellt. Der Versuch läuft weiter. Die gleiche Person erhält eine neue, gleich schwierige Denkaufgabe. Kaum beginnt der Prüfling Zu denken, wird von uns im Nebenraum der Motor eines Motorrades eingeschaltet und dessen lärmstärkster Gang mit heftigem Hupengetute zum wüsten Exzeß gesteigert. Die Versuchsperson reagiert mit Nervosität, verliert die Konzentrationsfähigkeit und wird, wenn sie zuletzt ganz versagt, verstimmt.

Der harmlose Versuch bezeugt eine moderne, unserem Geistesleben abträgliche Erscheinung: die Denkfähigkeit der Menschen, besonders der Großstädter, erleidet durch Verkehrslärm nachteiligen Einfluß. Wissenschaftler, Künstler und andere Kulturträger, die zum Fortgang ihrer Arbeit Ruhe brauchen, werden dadurch leistungsgehemmt und verärgert.

Fragt man, in Fortsetzung unseres Versuches, den Prüfling um seine Gedanken beim Lärmeinfall, dann wirkt es ergötzlich, wie grob selbst friedlichste Leute werden können. Oft lautet die Antwort: „Wenn ich doch dem, der den Krawall losgelassen hat, eine herunterhauen könnte!“ Mit der offenen Erklärung wird der sich mehrende Wunsch vieler Fußgänger gebucht, sich der motorisierten Lärmsünder irgendwie zu erwehren. Kombinieren wir die instinktive Angst vor etwaigem Ueberfahrenwerden dazu und erwägen wir überdies den Gestank der Motorenabgase, den der Passant schlucken muß, dann können wir die Abneigung der Fußgeher gegen die Motorisierten begreifen. Wir verstehen, warum zumal ältere Leute unseren Straßenverkehr fürchten und verdammen.

Nicht nur dem Zwecke des Aufdeckens und Abreagierens von Fußgeherhemmungen und Komplexen, die durch Motorisierte verursacht werden, nein, auch die allgemeine Einstellung aller Fußgeher zum Autoproblem statistisch zu erfassen, dazu nützen unsere Fragebogen, deren wahrheitsgetreues Ausfüllen jedem Besucher angeraten ist.

Fragebogen liegen übrigens auch im Trakte für motorisierte Besucher auf. Sie können mit ihren Autos bis zum Vorhof des Hauses fahren. Während man sich in den Räumen mit ihrer Person befaßt, werden die Fahrgeräte draußen kostenlos auf Funktion und Sicherheit geprüft. Die Besitzer werden inzwischen hochwichtigen Versuchen unter zogen. Sie Sitzen Zum Beispiel in ihren Fahrzeugen gemäßen Geräten und machen Probefahrten, wobei vor ihnen an der Wand ein die Strecke darstellender Film abläuft. Alles, was Fahrern auf Touren begegnet, wird ihnen optisch genähert: Verkehrszeichen, Autos, Motorräder, Vespas, Pferdefuhrwerke und Handwagen. Belebte Straßen kreuzen den Weg. Spielende Kinder, Radfahrer, Frauen, Greise gilt es zu beachten. Die Tierwelt ist mit Kühen, Pferden, Ziegen, Hühnern und Gänsen am Plane… die Scheinfahrt des Prüflings wird mit allen Griffen und Schaltungen durch technisch feinste Uebertragungs- mechanismen zu einem graphischen Bilde geschrieben.

Diese und ähnliche Versuche, mit denen Fahrbegabung und -tüchtigkeit graduell gemessen werden, haben bereits aufschlußreiche Ergebnisse gezeitigt:

Fünfundzwanzig Prozent aller Fahrer sind minderbegabt, fünfzig normal begabt und fünfundzwanzig Prozent sind überdurchschnittlich begabt, ein Motorfahrzeug zu führen.

Den Minderbegabten wird von uns eindringlich nahegelegt, das Fahren im Sinne der Menschlichkeit aufzugeben.

In den weiteren Institutsräumen bietet sich Gelegenheit, durch die heute sehr beliebten Frageteste Eigenurteile zu erlangen. Wir fragen:

1. Glauben Sie, daß der Besitz eines Motorfahrzeuges persönliches Ansehen, gesellschaftliche Stellung oder Ihr Lebensgefühl heben? Wenn ja, wie?

2. Finden Sie, daß Autofahren ein angenehmes Machtgefühl verleiht? Wo, wann, wie?

3. Halten Sie die bestehenden Geschwindigkeitsvorschriften für kleinlich? Welches Tempo trauen Sie sich zu? a) auf freier Landstraße, b) im Stadtgebiet?

4. Sind Sie der Meinung, daß die meisten Fußgeher an ihren Verkehrsunfällen selbst schuld sind?

5. Was tun Sie, wenn ein Verkehrsteilnehmer durch seine Schuld unter Ihren Wagen gerät?

6. Wieviel Alkohol können Sie vertragen, ohne sich am Steuer unsicher zu fühlen?

Schon die erste Hälfte der Dutzend Fragen genügt zu erkennen, daß unsere Teste kein leeres Spiel betreiben. Am deutlichsten spürt man das vielleicht in der Sonderabteilung für Motorradfahrer, wo die Prüflinge ihre Beurteilung weniger gerne hinnehmen, weil es öfters vorkommt, daß der Fahrer als rücksichtsloser Dummkopf erklärt wird. Und mancher Motorradfeschak kriegt einen roten Kopf, wenn er die bild- und wortreiche Entwicklungsgeschichte der typischen „Radauboys“ groß an der Schauwand dargestellt sieht. Mit der Bildgegenüberstellung: der „Halbstarke“ einst und jetzt, wird die För- menwandlung des unsozialen, mit moralischen Defekten behafteten Straßenhalunken zum modern überbeweglichen Straßenterröristen aufgezeigt, der als Radauboy gefährliche Höchstgeschwindigkeiten mit der Maschine forciert und die Mitmenschen durch nervėn- mordende Lärmattacken schockiert. Eigene Fragebogen für Schnellfahrer geben uns über die Geistesbeschaffenheit dieser Menschen Bescheid. Durch Fragen und Antworten wird der Kilometerfresser als desto dümmer entlarvt, je weniger er von der durcheilten Landschaft geistig erfaßt hat. Seiner hirnrissigen Rennfahrt wird die sportlich anerkennenswerte Leistung solider Motorradtouristen gegenübergestellt, die mit offenem Sinn motorwandernd durch fremde Länder oder Kontinente ziehen und imstande sind, uns durch interessante Berichte oder in Büchern mit Natur, Kunst und Kultur der Wanderstrecke vertraut zu machen.

„Strecke und Erlebnistiefe sind Alles!

Ziel und Geschwindigkeit sind Nichts!" lautet einer unserer diesbezüglichen Leitsätze. Der rasende Riederbergrennfahrer verliert da seinen Nimbus durch Lächerlichkeit. Ansonsten sind die Vorteile des vernünftig gebrauchten Motorrades Sachlich festgehalten. TiUšėiidėn Mėnsčhėn hilft das Kraftrad Züfh lėichtėrėn Bewältigen von Arbeitswegen. Landärzte, Vertreter, Handwerker scheinen da statistisch auf.

Gefahren und Folgėh dėr Schriėllfahrėrei werden blutig ernst und mit neoveristischer Schärfe in der modernsten Grusėlkammer demonstriert. Die Zahlen dėr Toten und der Verletzten des motorisierten Weltverkehrs gėbėn schauerlich zu denken. Wir sėhėn die Zahlen nach Ländern gereiht und erkennen den Anteil unseres Landes. Lebensgroße Farbphotos von Toten, die blütüberkrustet im zertrümmerten Fond liegen, sind sinnigerweise mit gebrochenen Menschenknochen eingerahmt. Unter verquetschten Totenschädeln lesen wir prägnante Sätze, wie: Hundert km st genügten, mich zu töten. Fährst du auch gerne rasch? Odert Neunzig km st — wann kommst du dran?

Geht es uns hier darum, das körperliche Sein des Menschen zu erhalten, so dienen freundlichere Räume dem Bewahren der Menschenseele vor übertriebenem Einfluß durch Motorfahrgeräte. Eine große Zahl früher Auto-geistesverwirrter Menschen verdankt uns Erlösung aus ihrer Auto-Hörigkeit. Schwere Fälle von dem heute arg grassierenden Auto-Fetischismus fartdfcn bei uns Heilung.

Nun, wo die Besucher seelisch so weit geläutert sind, erscheinen Fußgänger und Automobilisten in den gleichen Räumlichkeiten zusammengeleitet, da offenbart sich selbst in der architektonischen Zusammenführung der Grundrisse die Idee seelischer Annäherung von Mensch zu Mensch. Wir möchten damit einer neuen Gefahr begegnen, dehn wir fürchten, daß unsere Zeit, der die Kluft zwischen den sozialen Klassen zu schließen Mühe macht, von einem neuartigen Zerfall bedroht ist, dem Zerfall der Menschen in motorfahrende und fußgehende Klassen. Gibt es nicht bereits Verkehrsfachleute, die den Fußgeherverkehr der Großstädte durch unterirdische Kanäle schleusen wollen? Derartige Ideen, die Mehrheit zum Vorteil der Minderheit unter der Erdoberfläche verschwinden zu lassen, haben etwas von dem Grausėn, das uns aus abwegigen Phantasieromanen ent- gegendüstert.

Verkėhrsprčtblėmė, wie Unzulänglichkeit und Gefährlichkeit vöft Großstadtstraßen-

und -plätzen werdet! ifh Autölögischen Institut gründlich behandelt. Ein Stab freiwilliger Helfer arbeitet auch an dem Problem, wie man den fürchterlichen Staub, der von den Fahrzeugen auf vielen Landstraßen höch- gewirbhlt wird, mit einem Autogerät aüf- fangėn, befeuchten und an gewissen Orten abgeben könne. Eine Sondergruppe unserer Mediziner prüft die Abgase der Automotoren auf schädliche Wirkungen hin; die Möglichkeit der Krebsförderung durch Abgase wird gleichfalls studiert. Hygieniker und Pädagogen untersuchen auch, die Frage, inwieweit eine zu gerade Führung der Autofernsträßen den Lenkern durch einschläfernde Monotonie gefährlich wird. Jede der Sicherheit des Lėbėns dienende Erfindung wird bei uns erprobt (u. a. das deutsche Patent, das durch eine kluge Vorrichtung betrunkenen Fahrern das Starten des Wagens verhindert).

Dem Fußgeher soll besonders in Urlaubsorten und landschaftsschönen Wändergebieten zum Recht verhülfen werden. Und zwar, indem wir Trennung der ruheliebenden Leute von den lärmerfüllten Hauptstraßen fördern. Eigene Fußgeherwege von Ort zu Ort sollen Mann und Frau, Greis und Kihd ungefährliches, gesundes Gehen ermöglichen. Wir wünschen es in dėr Wachau und beim Wörther See und überall dort, wo es daran noch fehlt.

Edle körperliche und geistige Belange der Menschheit stehen im Zentrum unseres Bemühens. Dem Motorfahrzeug wird die Stellung zuerkannt, die es, nüchtern gesehen, verdient: Ein mit noch üblen Mängeln behaftetes, aber notwendiges Gerät zum Befördern von Menschen und Lasten, dessen Gebrauch noch vielfacher Kultivierung bedarf. Das Auto ist weder „rassig“ noch „vornehm“. Solche Prädikate bleiben unserseits dem Menschen Vorbehalten. Wie heißt es groß geschrieben unter anderen Institutsleitsätzen?

„Kleider machen Leute, aber Autos noch keine Menschen!"

Als Antwort höre ich irrsinniges Motorengebrüll, der Knall einer Fehlzündung reißt mich entsetzt hoch, Autohupen heulėn von der Straße herein Uhd rauben mir jeden Rest von Schlummer. Oooeh! Mein Autologisches Institut Zerfällt als Träumgebilde an dėr lärmenden Wirklichkeit. Jammerschade! Der Traum war so schön… zu schön, um wahr zu sein.

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