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LAND OHNE VERGANGENHEIT

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Ich habe das Meer überquert, einmal, zweimal, dreimal, ich habe Europa hinter mir gelassen, einmal, zweimal, dreimal, ich habe versucht, das Neue, das Andere zu verstehen und bin gerne zurückgelkehrt zu dem Alten, das doch gar nicht alt ist, zu dem Altehrwürdigen, das noch sehr jung isit und lebendig, ich bin gerne zurückgekehrt in ein Land, in dem die geistige Tätigkeit nicht isoliert ist von der großen Gesellschaft, in dem der philosophierende Mensch kein Aussätziger ist, den der gute Staatsbürger meidet. Ja, das ist die Sachlage, und ich, ich bin ein akademischer Lehrer, der den Auftrag hatte, sich amerikanischer Studenten anzunehmen, der den Auftrag hatte, Vorlesungen über Literatur zu halten und die Entstehungsbedingungen der Literatur zu studieren. Als Europäer machte ich meine Beobachtungen, als Europäer begegnete ich einer Welt, die Werte setzt, die sich nicht immer mit unserem traditionsgebundenen Denken decken, als Europäer schrieb ich Notizen nieder, von denen ich hier einige mitteilen will: es sind persönliche Notizen über eine geistige Situation, die ich vorfand, über Probleme der Literatur, die ich erst in den Vereinigten Staaten erkannte, über den Menschen, von dem jede Literatur ausgeht und zu dem sie wiedeikehrt in der Form von Theaterstücken, Romanen, Gedichten, Tagebüchern, Erzählungen.

Ich beginne mit New York, dem Einfallstor in das Hinterland des nordamerikanischen Bundesstaates, ein Platz mit den höchsten Gebäuden der Welt, mit einer der stärksten Industriekonzentrationen des Kontinents, mit einer Fülle von Angeboten, unter denen sich auch geistige Produkte befinden:

„Ich glaube, ich finde alles in dieser Anhäufung von Verkehr, Menschen, Häusern und Hoffnungen. Ich finde alles, was Geld kaufen kann: eine faszinierende Auswahl von Schallplatten, viele Bücher, Kleidung, Schmuck, Diener, Unterhaltung, Theater mit Musicals und Theater mit ernsten Stücken, Schulen verschiedener Güte, Radiostationen, Fern- sehunternehmungen, Opernvorführungen, Konzerte und ausgezeichnete Kunstsammlungen, die Altes vorzeigen und sich vor dem Neuen nicht scheuen. Und eingepackt in diese Vielfalt von Zuständen, von Institutionen, von Tätigkeiten ist der Intellekt derer, die schaffen wollen, die Originelles bieten wollen und nicht eine Anhäufung von bereits Bekanntem: und diese Leute stehen vor einer Leere, in der keine Ruhe ist, in der Gegenstände umherwirbeln und Klänge, in der Rufe ertönen und Antworten hörbar werden irgendwo und irgendwann. Diese Leute, sie arbeiten vor Klötzen aus Beton, sie arbeiten in Häusern, die in den Himmel aufsteigen und ihn doch nicht erreichen, sie arbeiten in Räumen, in die Luft gesaugt wird mit Hilfe von zentralen Klimamaschinen, sie sitzen hinter Fenstern, die sich nicht mehr öffnen lassen, die ihnen optischen Zugang erlauben zu dem Geschehen außerhalb der Bewahrung, die ihnen den Gedanken erlauben, daß es Staub gibt und Hitze und Kälte und Lärm und Bremsengekredsch; diese Leute haben den Kontakt verloren zur konkreten Materie, ihre Welt ist ein Gebilde aus Kunststoff: glänzend, rein, grellfarbig modern und schon wieder veraltet; diese Leute, Romanciers, Geschichtenerzähler, Dramatiker, sie wollen etwas erschaffen, aber was können sie greifen, was können sie erleben, was können sie mit dem Wort festhalten innerhalb all dieser Bewegung, die kein Ziel hat, die auflöst und wieder sammelt, die weiterstößt in eine Zukunft, die keine Vergangenheit anerkennt, denn Vergangenheit ist Bindung, ist Perspektive, ist Orientierung, und alte Wertordnungen dürfen nicht mehr sein als akademische Formeln, die in Bibliotheken gestapelt liegen, die in Studentenarbeiten wandern und von dort wieder in erwünschtes Vergessen. Ich bewundere amerikanische Schriftsteller, ich bewundere Hemingway, Thomas Wolfe, William Faulkner, Edward Albee, Tennessee Williams und wie sie alle heißen, ich bewundere sie, daß sie den Kampf aufnehmen gegen die Monotonie einer kommerzialisierten Gesellschaft, einer Gesellschaft, in der konsumiert werden muß, sollen die Fabriken genug Arbeit halben. Ich fühle den tiefsten Respekt für diese Autoren, die einer Umgebung gegenüberstehen, die kein Gesicht besitzt und kein Ohr hat und kein Auge für komplexe Probleme des Geistes und der Kunst. Ich glaube zu verstehen, was es bedeutet, in einen Urwald der Ungeistigkeit einzudringen mit Sätzen, mit sprachlichen Bildern, mit fiktiven Schicksalen; ich glaube zu verstehen, warum sich die neueste amerikanische Literatur überschlägt in dem Versuch, sowohl den intellektuellen als auch den körperlichen Regungen des Menschen gerecht zu werden: die puritanischen Sperriegel sind zu stark, als daß ein direkter Zugang zum Geschlecht möglich ist, die Verführung, die Sachverhalte realistisch zu erfahren, bis ins Detail hinein in die sprachliche Gewalt zu bekommen, ist übermächtig, die puritanische Zurechtweisung, die jedes unmoralische Verlangen begleitet, immer anwesend, so daß sich auch im Orgasmus keine Erlösung einstellt. Das Material macht sich selbständig und überspielt den Schaffenden, der im Wahne lebt, frei zu sein von den Gesetzen der Gesellschaft, in der zu leben er sich entschlossen hat. Norman Mailer, Henry Miller, James Baldwin, Mary McCarthy wären Beispiele für diesen Zustand einer Revolte, die an ihrer eigenen Kälte erfriert.“

Soweit die Notiz aus meinem Erinnerungsibuch, die nahegelegt wurde durch die spezielle New Yorker Atmosphäre, die anders ist als das, was man im Landes in nern findet, und doch keine Fremdwörter in diesem Gebilde von 50 Staaten, die alle ihre besonderen Rechte und Vorschriften haben. New York scheint mir eine Konzentration von all dem zu sein, was die Vereinigten Staaten von Amerika ausmacht: diese Stadt vereinigt das Elend, die Macht, die Größe eines Experimentes, das wir Europäer Amerika nennen. Und Amerika ist älter, als es wahrhaben will; die Landschaften sind alt: die großen Prärien des Mittleren Westens, die Berge Kaliforniens, die Steppengebiete von New Mexiko, die endlosen Wüsten des Goldlandes Nevada, an dessen Südostecke eine Stadt dem trockenen Boden aufgesetzt wurde zur Freude der Goldgräber und heute zur Freude der Glücksspieler, die Erholung suchen von der Härte des amerikanischen Alltags. Erholung durch Geldspiel, durch das Kokettieren mit schönen Frauen, durch das Betrachten von Shows, in denen das geboten wird, was dem durchschnittlichen Amerikaner Freude bereitet: Ballett mit gutgewachsenen Mädchen, Zauberkunststücke, sentimentaler und rhythmisch betonter Gesang von Solisten, Kleingruppen und Chören, Tiemummem, Clownerien, realistischer Bühnenregen und Bühnensturm und ein Tempo, das jedes längere Nachdenken verhindert. Diese Show-Stadt, von der jeder amerikanische Junge träumt, ist Las Vegas: laut, heiß, luftgekühlt, in ständigem Geldrummel bei Tag und Nacht, ohne Pause, ohne Sperrstunde, ständig im Verkauf bei tropischen Temperaturen, eine Ansammlung von Hotels, von Show- Plätzen, Reklamen, Spielautomaten, Swimming-pools, von langgezogenen Straßen auf flachem Landgebiet, und neben dem Rummel Wüstensand, Schlangen, Öde, Verlorenheit, Landschaft des Gebetes um Hilfe. Las Vegas faszinierte und erschreckte mich; Las Vegas ließ mich an die Situation der Schaubühne in den Vereinigten Staaten denken; ich notierte:

„Theater bedeutet für die meisten Amerikaner ein Platz, wo Filme vorgeführt werden, denn der lebendigen Theateraufführung begegnet er, der Bürger der USA, selten, vielleicht in der Schule, vielleicht in größeren Städten. Da das Verstehen der Umgebung die Berufsarbeit nicht zu sehr beschweren darf, besteht keine innere Notwendigkeit, über Film und Television hinauszugehen, die nun fast ausschJieß-

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