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Polnische Zwischenbilanz

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In einer Rede, die er am Vorabend des neuen Staatsfeiertags in Danzig gehalten hat, schmetterte Gomulka eine statistische Jubelouvertüre hinaus, in der jede Zahl wie ein Posaunenton des Jüngsten Gerichts über das frühere kapitalistisch-feudale Polen klang. Ums Achtfache haben sich seit der Befreiung des Landes von fremder Zwangsherrschaft die industrielle Produktion, ums Dreifache das Nationaleinkommen vermehrt. Es wirken heute 300.000 Techniker, 20.000 Agronomen, 50.000 Ärzte und vor allem 200.000 Lehrer, 19.000 Professoren an höheren und hohen Schulen — siebenmal mehr als 1945. Einige Zweige der Produktion haben sich in unerhörtem Tempo entwickelt, so der Schiffbau, die chemische Industrie, die Auswertung vordem vernachlässigter Bodenschätze wie des Aluminiums, des Kupfers, die der „weißen Kohle“. Ein neuer Menschentypus ist im Werden, der in nicht zu ferner Zukunft an Wohlstand den Westen erreichen wird und der schon heute charakterlich wie dank seiner geistigen Regsamkeit den Vergleich mit keiner anderen Nation zu scheuen hat.

Auf ähnliche Töne war die Rechenschaft gestimmt, die man aus Anlaß des 18. Geburtstages der Polnischen Volksrepublik in den führenden Zeitschriften und Zeitungen lesen konnte. Stolz auf das bereits Errungene, Zuversicht in den künftigen Fortschritt, Beteuerungen des Friedenswillens, Lob des Sowjetbündnisses, Besorgnis vor deutscher Revanche und Betonen der eigenen Abwehrkraft, hinter der die gesamte sozialistische Welt als mächtige Bundesgenossin steht: Das waren die Leitmotive der von allzu großem Pathos freien Betrachtungen der Presse. Inwieweit spiegeln das statistische Feuerwerk, die offiziellen Reden und Schreiben mit den Äußerungen einer kontrollierten Publizistik objektive Wahrheit, die Ansichten der Bevölkerungsmehrheit und die der nur zum geringen Teil auf den Kommunismus eingeschworenen Eliten wider?

Bei objektiver Betrachtung wird man feststellen, daß sich elektrotechnische und energetische Industrie, Stahlproduktion und Walzwerke, Maschinenbau, chemische Industrie — vor allem die vom früher nur unzulänglich verwerteten Schwefelvorkommen abhängige, dann Düngemittel, synthetischer Kautschuk, Medizinalien — sehr günstig entwickeln. Dem fremden Besucher auf kurze Zeit fällt das weniger in die Augen; höchstens, daß er bei öfteren Reisen nach Polen die schnell zunehmende Zahl der „elektrifizierten“ Dörfer und das im amerikanischen Tempo vor sich gehende Anwachsen der Industriesiedlungen bemerkt: etwa Nowa Huta bei Krakau, Tychy, Sta-lowa Wola, Mielec, die vor einem Vierteljahrhundert kleine Dörfer waren, oder Radionköw in der Woiwodschaft Kattowitz, Legionowo bei Warschau, die vor einem Jahrzehnt überhaupt noch nicht existiert haben und die heute um 25.000 Einwohner zählen, mit der Aussicht, binnen weniger Jahrzehnte zu Großstädten zu werden.

“Dem Gast auf eine Weile sichtbar sind die Ergebnisse einer großzügigen Bautätigkeit, die erfreuliche Verbesserung des Straßennetzes, die sorgsame Pflege historisch oder künstlerisch bedeutsamer Bauten, Kirchen und Klöster inbegriffen, die vorzüglichen Eisenbahnen, weitaus die besten im gesamten kommunistischen Länderblock, endlich das Aufblühen der Häfen — die drei: Danzig, Gdynia und Stettin voran. Fachkundige müssen ferner die Wendigkeit bewundern, mit der sich der polnische Außenhandel erstens vor alleiniger Bindung an die UdSSR und an die Volksdemokratien zu bewahren weiß, ohne deshalb die unentbehrliche sowjetische Förderung und den Beistand der zwei wirtschaftlich für Polen wichtigsten Satelliten, der DDR und der Tschechoslowakei, einzubüßen, ferner die Umstellung eben-dieses Exports, der den Preisrückgang der Steinkohle, die anfangs Polens Hauptausfuhrprodukt war, und die geringere Nachfrage nach landwirtschaftlichen Erzeugnissen dadurch wettmachte, daß man nun in steigendem Umfang Maschinen, Transportmittel und vor allem ganze Fabrikeinrichtungen — nach den Entwicklungsländern (China, Indien inbegriffen) — ausführt. Mit dem Export des letztgenannten Artikels ist zugleich eine doppelte politische und wirtschaftlich-kulturelle Wirkung verknüpft: polnische Ingenieure, Techniker und Spezialarbeiter begleiten derlei Ausfuhrgut, sie bleiben längere Zeit in dessen Bestimmungsstaat, und sie erringen dort zumeist große Beliebtheit, weit mehr als sowjetische oder andere volksdemokratischen In-struktoren. Sie wecken Interesse für ihre Heimat, und sie tragen so dazu bei, daß es in Warschau, an den polnischen Hochschulen und Industriezentren von Exoten wimmelt, denen ihrerseits die neue Atmosphäre sehr behagt. Nicht nur wegen der Liebenswürdigkeit der Bewohner, sondern auch und vor allem ob des Klimas relativer geistiger Freiheit und mitreißender geistiger Regsamkeit, dergleichen es weder in den beiden kommunistischen Weltreichen noch in einer anderen Volksdemokratie und in nur wenigen Staaten der „Dritten Kraft“ gibt.

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