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Berufung: Familie und Beruf

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Ich habe meine Kindheit und meine schöne Jugendzeit bis zu meinem 21. Lebensjahr in Ungarn verbracht, seit fünfzehn Jahren bin ich nun österreichische Staatsbür- gerin. Ungarn hat mir jedoch die Wärme der Wiege, ein wunderba- res Elternhaus und eine ausgezeich- nete Ausbildung gegeben.

Meine Mutter und meine Groß- mutter, also schon zwei Generatio- nen vor mir, waren immer berufs- tätig und gleichzeitig einmalige Mütter. Diese Gefühle und Gedan- ken haben mich nachzudenken motiviert, wie die beiden das wohl geschafft haben, und wieso es viele ungarische Frauen für selbstver- ständlich halten, Beruf und Fami- lie zu vereinbaren. Bei meinem letz- ten Besuch in Ungarn habe ich mit mehreren Frauen darüber geplau- dert. .. Familiensoziologie hat mich immer mehr beschäftigt. Ich habe dazu Zeitschriften und Berichte der Soziologin Judit Sas gelesen, sowie neueste Berichte in der Zeitschrift „Reform". Die Entwicklungen scheinen rasch voranzuschreiten.

1960 fanden die ersten familien- soziologischen Untersuchungen in Ungarn statt, die sich mit Frauen- problematik beschäftigten. 1968 gab es eine wirtschaftliche Reform, die das Leben der Frauen entschei- dend veränderte. Soziologen ver- suchten in der Folge festzustellen, wo die Ursachen für Depressionen und schizophrene Erkrankungen der Frauen der ungarischen Mittel- schicht in diesen acht Jahren lagen. Der Zwiespalt, Kinder haben zu wollen und gleichzeitig verdienen zu müssen, weil ein Gehalt für den Lebensunterhalt nicht ausreichte, führte zu Spannungen. Wenn die Frauen sich den Kinderwunsch erfüllt hatten, mußten sie damit rechnen, daß der Familienvater bis zu 16 Stunden pro Tag arbeiten mußte und somit fern von seiner Familie war.

Das 1968 eingeführte „Gyes" (Gyermak szabadsag) - eine Art Karenzurlaub - ermöglichte nun einerseits, daß die Frauen zu Hause bleiben konnten - ohne Ausnahme erhielten alle dieselbe Unterstüt- zung -, andererseits konnten sie Fernunterricht nehmen, um sich weiterzubilden. Damit stieg das intellektuelle Niveau der Frauen an, eine Anstellung war dann na- türlich leichter zu finden.

Während die Frauen früher stark von ihrer Umgebung und von ihrer Heirat abhängig waren, sind jetzt in der dritten Generation die Bar- rieren leichter zu durchbrechen. Meiner Mutter und meiner Groß- mutter gelang es, wie vielen unga- rischen Frauen, die Grenzen zwi- schen Mann und Frau, was die glei- chen Rechte betrifft, schon längst zu überschreiten. Die Ungarin empfindet sowohl Beruf als auch Familie als Berufung.

Ein Zitat aus der ungarischen Frauenzeitung „Magyar nök lapja" soll das verdeutlichen: In einer Fabrik, die Fernsehapparate her- stellt, arbeitet eine Frau am Fließ- band; sie ist diejenige, die das Ge- rät mit dem Markenstempel ver-' sieht und sagt von ihrer Arbeit: „Ich bin es, die dieses Gerät der ganzen Welt bekannt macht!". Sie hat drei Kinder und arbeitet seit 16 Jahren, ohne einen Tag zu fehlen, wenn man von den sechs Wochen Wo- chenbett absieht. Wenn dies auch eine der berühmten ungarischen Übertreibungen darstellt, ist doch etwas Wahres dran.

Nach einer familiensoziologi- schen Untersuchung gibt es für das Familienleben einer Frau vier Pha- sen: die erste Phase beginnt mit der Heirat und endet mit der Geburt des ersten Kindes. Dort nimmt die zweite Phase ihren Anfang, die sich über Geburt und Erziehung der Kinder erstreckt. Die dritte Phase bezeichnet den Wiedereinstieg ins Berufsleben, der von der vierten Phase, der Pensionierung, abgelöst wird.

Für die dritte Phase versucht der ungarische Staat viele Erleichte- rungen einzuführen, beispielswei- se die Teilzeitbeschäftigung. Der Staat unterstützt auch ausgebilde- te Pädagogen, die selbst ein Kind bekommen haben und drei bis vier Kleinkinder in der Wohnung zur Betreuung tagsüber aufnehmen können.Die karitative Tätigkeit von Frauen für Projekte im Staatsin- teresse, wie Benefizkonzerte, Fe- stivals und anderes, wird ebenfalls vom Staat finanziell belohnt.

Die Familie als Basis gesellschaft- licher und menschlicher Entwick- lung wird wieder als wertvoll ange- sehen und vom Staat geachtet. Seit 1989 gibt es auch wieder Religions- unterricht und Moralphilosophie in den Schulen. Die Frau wird sowohl im Beruf wie auch als Mutter als gleichwertig akzeptiert.

Die Autorin hat in Ungarn Bewegungspäda- gogik und in Wien Theaterwissenschaft und Psy- chologie studiert, und arbeitet an Theaterpro- jekten für einen Kulrurverein.

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