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Der russische Bär lockert den Griff

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Offen ist die Frage, ob sich in der sowjetischen Religionspolitik die harte oder weiche Linie durchsetzen wird. Es gibt Zeichen eines Tauwetters, aber auch Rückschläge.

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Offen ist die Frage, ob sich in der sowjetischen Religionspolitik die harte oder weiche Linie durchsetzen wird. Es gibt Zeichen eines Tauwetters, aber auch Rückschläge.

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Große Aufregung hat ein Buch des Engländers Gerald Buss über das Verhältnis der russisch-orthodoxen Kirche zum Sowjetstaat verursacht. Der russische Bär, der nach diesem Buch die Kirche total umklammert, fühlt sich verleumdet; und schlägt kräftig auf das in der Nähe Londons angesiedelte Keston College - ein Institut, das sich seit Jahren sehr sachlich mit der Entwicklung der Religion in osteuropäischen Ländern beschäftigt. Keston College hatte nämlich bei der Erstellung des Werkes „Der Griff des Bären“ Hilfestellung geleistet.

Gerald Buss nimmt sich in dem Buch kein Blatt vor den Mund. Mit Akribie hat er auf einer Landkarte jene Orte in der Sowjetunion verzeichnet, wo in Lagern, Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten sogenannte Gewissensgefangene und gläubige Menschen festgehalten werden.

Natürlich wird in der UdSSR kein Mensch expressis verbis wegen seiner religiösen Uberzeugung verfolgt. Deswegen ist das Urteil sowjetischer Medien über die Arbeit Buss' und Keston College ziemlich hart. Und wie seit Jahren, wenn es um die Frage nach der Religionsfreiheit in der Sowjetunion geht, wird sogleich die höchste Stelle bemüht. Der Rat für Religionsangelegenheiten beim Ministerrat der UdSSR (Vorsitzender Konstantin Chart-schew) teilte über die Agentur Nowosti mit, daß es in der Sowjetunion keinen Menschen gibt, der wegen seiner religiösen Ansichten oder religiösen Tätigkeit verurteilt worden sei.

Keine Verfolgung des Glaubens wegen also? Passieren kann schon manches. Das weiß auch Nowosti. Gegen „bürokratische Entgleisungen“ ist niemand, nicht einmal die Sowjetunion, gefeit. Und da kann es schon vorkommen, daß es bei der Zulassung neuer religiöser Gemeinden (in der Sowjetunion besteht Registrierpflicht) oder bei der Erteilung von Baugenehmigungen für Kirchen zu Gesetzesverletzungen kommt.

Wenn man staatlichen Beteuerungen Glauben schenkt, dann wird alles getan, um Verletzungen der Rechte der Gläubigen in der UdSSR zu bekämpfen. Selbstverständlich obliegt die Aufgabe staatlichen Stellen. Und der neu geschaffene Rat für Religionsangelegenheiten beim Ministerrat der Russischen Föderation (Vorsitzender: Leonid Kolesnikow)

dient nur der „noch wirksameren Kontrolle über die strikte Einhaltung der Gesetzgebung über religiöse Kulte auf dem Territorium der Republik“, so Igor Troja-nowski von Nowosti.

Wenn allerdings religiös gesinnte Sowjetbürger ihre Angelegenheit selbst in die Hand nehmen, in unabhängigen Friedensbewegungen, Helsinki-Gruppen, Bürgerrechtsbewegungen oder in Komitees zur Verteidigung der Rechte der Gläubigen zusammenarbeiten, dann „funktioniert“ die staatliche Kontrolle auch. Selbstredend, daß man dann nicht aus religiösen Gründen gegen Aktivisten einschreitet; geht es doch um Höheres, um Gefährdung des Staates.

Und in den meisten Fällen, wo es zu einer Verurteüung religiöser Aktivisten — ob im katholischen Litauen oder innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche — gekommen ist, wurden die berühmtberüchtigten Artikel 70 und 190-1 des Strafgesetzbuches der UdSSR bemüht. Beim erstgenannten Artikel handelt es sich um Strafbestimmungen für „antisowjetische Agitation und Propaganda“, im zweiten um Abwehr der „Verbreitung von vornherein lügenhaften Hirngespinsten, die die sowjetische Staats- und Gesellschaftsordnung in Verruf bringen“.

Im letzten Jahrzehnt war man im Umgang mit diesen Bestimmungen sehr rigoros. Jede Art von Kritik konnte damit zum Verstummen gebracht werden. Heute — ein Anzeichen für einen weicheren religionspolitischen Kurs in der Sowjetunion — denkt man über diese Artikel milder.

Bei einer gemeinsamen TV-Brücke zwischen den USA und der UdSSR erklärte kürzlich das ZK-Mitglied Wadim Sagladin

Mönche im restaurierten Moskauer

(Nowosti)

amerikanischen Senatoren, daß der Artikel 70 „entkriminalisiert“ werden soll; dahingehend, daß gewisse Vergehen, die bisher als „gefährliche Verbrechen“ galten, nun „als administrative Verletzungen betrachtet werden“. Und Artikel 190-1 könnte - so Sagladin — überhaupt abgeschafft werden.

Wie steht es aber um die Religionsgesetzgebung in der Sowjetunion selbst? Bekenntnis zu einer Religion ist gestattet, religiöse Propaganda im Gegensatz zur atheistischen nicht. Auf diesen logischen Widerspruch hat im Sommer dieses Jahres auch der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff auf einer Reise durch die Sowjetunion seine staatlichen und kirchlichen Gesprächspartner aufmerksam gemacht.

Dieser Widerspruch beschäftigt auch die russisch-orthodoxe Hierarchie. Vor nicht allzu langer Zeit hat Metropolit Alexej von Leningrad öffentliche Kritik an den Staat-Kirche-Beziehungen geübt (so rosig ist die Lage der Gläubigen in der UdSSR also doch nicht) und eine Revision der seit 1929 bestehenden Religionsgesetze verlangt. Die Kritik Alexej s kann als sensationell gewertet werden, wenn man bedenkt, wie enge Bande Staat und Kirche zumindest seit dem Großen Vaterländischen Krieg (Zweiter Weltkrieg) verbinden.

Alexej wandte sich vor allem gegen eine Behandlung Gläubiger als „Bürger zweiter Klasse“. Mißtrauen und Reserven gegen die

Religion gehörten abgebaut. Glasnost müsse auch auf die Gläubigen angewandt werden.

Ein weiteres Indiz für eine offenere sowjetische Religionspolitik stellt die Ankündigung des „Religionsministers“ Chartschew dar, alle aus religiösen Gründen (!) inhaftierten Gewissensgefangenen auf freien Fuß zu setzen. Damit soll dokumentiert werden, daß man aus Fehlern der Vergangenheit lernen und zu einer „neuartigen Koexistenz“ mit registrierten Religionsgemeinschaften in der UdSSR kommen wük

„Sowohl die Religion als auch die Kirchen werden frei unter dem Sozialismus wirken“, versprach Chartschew. Man wird ihn beim Wort nehmen und fragen müssen, wann das alles verwirklicht wird.

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