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Religiöse Wiedergeburt

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Noch vor einigen Jahren entwik-kelten sich die religiöse und die demokratische Bewegung in der UdSSR parallel zu einander; Kreuzungspunkte gab es nur selten. Die religiöse Bewegung im Rahmen der orthodoxen Kirche war zum Beispiel vor allem damit beschäftigt, sich mit den täglich anfallenden Problemen des kirchlichen Lebens auseinanderzusetzen:

Sie kämpfte gegen die Schließung von Kirchen, die zu Zeiten Chruscht-schews in großem Ausmaß stattgefunden hatten; gegen die Streichung jener Geistlichen von den Registrierungslisten, die den Behörden nicht genehm waren (diese Listen sind Voraussetzung dafür, daß ein Geistlicher in einer Kirche zelebrieren darf); sie versuchte, Unregelmäßigkeiten und die ungesunde Atmosphäre im Moskauer Patriarchat öffentlich anzuprangern - eine Atmosphäre, die entsteht, wenn sich die Regierung zur Ausführung ihrer gesetzlosen und gottlosen Taten der Hände von Bischöfen bedient.

Spontane Reaktion

Diese Bewegung war aber weder organisiert noch hatte sie ein festes Programm. Sie entstand spontan als Reaktion auf begangene Gesetzesübertretungen, nach und nach zeichnete sich aber doch eine bestimmte Tendenz ab.

Einige Priester und gläubige Laien forderten die Unabhängigkeit der Kirche, die Einstellung der gesetzwidrigen Einmischung des Staates in kirchliche Angelegenheiten. Als leuchtendes Denkmal dieser Tendenz kann der bekannte Brief der beiden Priester Jakunin und Eschli-man an den verstorbenen Patriarchen Alexij bezeichnet werden, auf Grund dessen die beiden Geistlichen Zelebrationsverbot erhielten.

Es muß gesagt werden, daß dieser Brief ein Ereignis von großer geistiger Bedeutung war. Da religiöse Uberzeugungen, unabhängig von der Konfession, immer ein Gegengewicht zur marxistischen Ideologie sind, wütete der staatliche Terror von allem Anfang an gegen die Religion mit besonderer Heftigkeit, am heftigsten gegen die orthodoxe Kirche als die größte und standhafteste Sphäre. Es genügt anzuführen, daß sich 1941, vor Beginn des Krieges, nur zwei Bischöfe in Freiheit befanden. Alle übrigen waren entweder zu Tode gequält worden oder saßen in Lagern.

Als sich der Staat davon überzeugte, daß es nicht möglich war, die Religion vollständig auszurotten, erfand er ein neues Kampfmittel. Er versuchte, alle gesellschaftlichen und sozialen Aktivitäten der Kirche zu unterbinden, indem er ihr nur die Ausübung des Kultes gestattete und auf diese Weise trachtete, einen unüberbrückbaren Abgrund zwischen Kirche und Volk zu schaffen und die Kirche im Staat in die dunkelste Ecke zu stellen.

Das Bestreben, Kirche und Welt auseinanderzureißen, hatte tiefgreifende Folgen. Viele Menschen, die wegen ihrer religiösen Uberzeugungen Gefängnisstrafen und Lagerhaft zu erdulden gehabt hatten, waren so froh, wieder zur Kommunion und Beichte gehen und Gottesdienste besuchen zu können, die sie so viele Jahre hatten vermissen müssen, daß sie die „dunkle Ecke“ akzeptierten und sich mit einem Glauben abfanden, der auf die Kulthandlungen beschränkt war.

Man darfauch nicht vergessen, daß nach dem Krieg und dem religiös-patriotischen Aufschwung des Volkes die Gläubigen nicht mehr als „Feinde

der Gesellschaft“ angesehen wurden, wie dies in den dreißiger Jahren noch der Fall gewesen war, sondern als rückständige, unwissende Leute, die immer noch von Vorurteilen aus der Vorrevolutionszeit beherrscht waren.

Die beginnende religiöse Wiedergeburt in Rußland empfand die Spaltung zwischen Kirche und Welt als brennendste und wichtigste Frage. Uber sie schrieben P. Dmitrij Dudko, Alexander Solschenizyn, Jevgenij Barabanov, P. Gleb Jakunin. Christliche Aktivität in einem atheistischen Staat ist das fundamentale Problem nicht bloß der Orthodoxie, sondern ebenso der Katholiken (in Litauen und Moldau), Baptisten und Pentekostarier. Es ist kein Zufall, daß einer der Aufrufe russischer Christen zur Freiheit der Religionsausübung von Vertretern vieler verschiedener christlicher Konfessionen unterzeichnet wurde.

Mir scheint, daß die demokratische Bewegung der UdSSR einen segensreichen Einfluß auf kirchliche Kreise ausgeübt hat. Von allem Anfang an veröffentlichte die „Chronik der laufenden Ereignisse“ gründliche Informationen über die Unterdrückung der gläubigen Menschen. Die weitbekannte „Chronik der litauischen katholischen Kirche“ entstand ebenfalls unter dem Einfluß der „Chronik der laufenden Ereignisse“.

Hilfe für alle

Vor zwei Jahren wurde in Moskau ein „Komitee des christlichen Kampfes“ gegründet, dem sich Persönlichkeiten anschlössen, die für ihr christlich-gesellschaftliches Engagement bekannt sind: Priester Gleb Jakunin, Mönchsdiakon Varsononj Hajbulin, Viktor Kapitantschuk. Im Programm des „Komitees“ heißt es, zu seinen Zielen gehöre nicht nur die Verteidigung von Christen oder Gläubigen anderer Konfessionen, sondern aller Bürger, die Hilfe brauchten. Dies ist jedoch auch das Programm der demokratischen Bewegung.

Es ist offensichtlich, daß die christliche und die demokratische Bewegung sich innerlich ähnlich werden, wenigstens da, wo es um die Verteidigung des Menschen und seiner Würde geht. Besonders charakteristisch ist dafür Litauen, wo eine organische Verschmelzung der religiösen und der demokratischen Bewegung stattgefunden hat.

Diese Nähe, diese beginnende Verschmelzung könnte zu einer großen Kraft bei der sittlichen und demokratischen Wiedergeburt Rußlands werden.

Ich glaube, daß dieser beginnende Zusammenfluß durch die Erkenntnis und den Willen zur Beseitigung der tragischen Folgen, die die Trennung von Kirche und Welt verursacht haben, erklärt werden kann. Aber auch durch die enorme Erweiterung der religiösen Sphäre in Rußland. Der Kirche ihre gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Funktionen zurückzugeben, die sie während ihrer gesamten Geschichte in Rußland ausgeübt hat, heißt, dem Volk seine geistige und moralische Kraft zurückzugeben.

Vielleicht ist es bis dahin noch weit. Aber die Annäherung zwischen der christlichen und der demokratischen Bewegung scheint mir ein historischer Hinweis dafür zu sein, daß Freiheit und Glaube für immer zu einer Alternative des wiedererwachenden Rußland geworden sind.

(Übersetzt aus dem Russischen von Maria Razumovsky)

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