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Der unterschlagene Kardinal

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Es gibt vielerlei Menschen: den Höhlenmenschen zum Beispiel (auch Troglodyt genannt), den Marsmenschen (eine Fiktion), den Sowjetmenschen (leider keine Fiktion), den Affenmenschen, seit ein doppelter Doktor mit kräftigem Haarwuchs die Ob-frau als Pendant zum Obmann erschaffen hat, den Obmenschen und — den ORF-Menschen. (Verhaltensforscher würden ihm als seine hervorstechendsten Eigenschaften Schnoddrigkeit und Arroganz attestieren.)

Als Kleidung bevorzugt der ORF-Mensch Blazer; er trägt aber auch Blue-Jeans. (Konsequenterweise müßte er Blue-Jeans zum Blazer tragen: aber dazu fehlt ihm der Mut. In seinem Knopfloch steckt das ORF-Loch.)

Der ORF-Mensch ist ein Produkt der ORF-Reform, obwohl es ihn im Embryonalzustand schon vorher gegeben hat. Die ORF-Reform der ORF-Reform hat er heil überstanden. Aus dieser Erfahrung ist zu schließen, daß er auch eine mitunter schon wieder wünschenswert gewordene Reform der Reform der Reform unbeschädigt überleben könnte.

Der ORF-Mensch tritt, wie sich das für einen Menschen gehört, in zweierlei Geschlecht auf: als ORF-Mann und als ORF-Frau. Das Maskuline und das Feminine vermischen sich bei ihm des öfteren zu einem Neutrum: das liegt nicht so sehr an ihm selbst, an seiner Individualität, sondern an dem Klima, in welchem er gedeiht.

Eine ORF-Frau — sie trägt Blue nach Art der Jeans auch oben: mit Charme, jedoch ohne Schirm und Melone — hat vor einigen Tagen — genauer: am 10. Oktober -p eine Rediosendung über Kardinal Innitzer anläßlich dessen zwanzigsten Todestages vollbracht: es war ein echtes Produkt ORF-menschlichen Geistes, eine Kreation aus der Perspektive des ORF-Auges.

Eine volle Stunde bester Sendezeit stand der ORF-Frau zur Verfügung, um den Hörern von öl ihr Bild jenes Kirchenmenschen, jenes österreichischen Menschen vorzusetzen, der durch viele Untiefen menschlichen Leides geschritten ist: Untiefen, die den meisten ORF-Menschen nur vom Hörensagen her bekannt sein dürften.

Zwei Ereignisse — besser Begebenheiten — im Leben des Kardinals beherrschen das Bild, das die ORF-Frau da mit Hilfe von Interviews und eigenen, in Frageform gekleideten Kommentaren entwarf: der Ca-nossagang Innitzers zu Hitler ins Hotel Imperial und das „Heil Hitler“ unter seinem Brief an Gauleiter Bürckel. Durch diese Dominanz konnte nur ein einseitiges, falsches, in seinen Perspektiven und historischen Bezügen völlig verzerrtes In-nitzerporträt entstehen. Und doch erhob es — wenn auch nicht ausgesprochen — aber als ÖRF-Produkt Anspruch auf „Objektivität“ und „Meinungsvielfalt“. Die „Objektivität“, die in der Praxis nicht zu erreichen ist, war eine Erfindung der Reform; die „Meinungsvielfalt“, die es bei weitem noch nicht in ausreichendem Ausmaß gibt, war ein Postulat der Reform der Reform; die Forderung nach Seriosität, die ex-pressis verbis noch von keinem „Reformer“ an den ORF gestellt wurde, ließe sich wahrscheinlich erst nach einer Reform der Reform der Reform verwirklichen.

Unter dem falschen Heiligenschein von „Objektivität“ und „Meinungs-vielfalt“ blieben die wichtigsten Tatsachen aus dem Leben des Wiener Kardinals rigoros unerwähnt.

So sein erstes öffentliches Auftreten gegen den nationalsozialistischen Terror auf der Wiener Universität im

Jahre 1932: damals stellte sich Rektor Innitzer schützend vor die bedrängten jüdischen Studenten. Für dieses sein Auftreten gibt es noch zahlreiche Zeugen. Keiner wurde von der ORF-Frau ausgeforscht und be-

Dann Innitzers Predigt vor den zehntausend jungen Wiener Katholiken im und vor dem Stephansdom am 7. Oktober 1938: diese Predigt mit dem „Christus ist unser Führer“ war das Herzstück der ersten großen an-ünazistischen und patriotischen Massenkundgebung im geknechteten Wien nach der Okkupation. Auch für dieses durchaus historische Ereignis gibt es noch viele Zeugen. Einige von ihnen haben sich gerade jetzt, am 7. Oktober dieses Jahres, zu einem Proponentenkomitee zusammengetan, um die Gründung einer Kaidi-nal-Innitzer-Gesellschaft für den hundertsten Geburtstag des Kardinals am 25. Dezember 1975 vorzubereiten. Der Verfasser hat der ORF-

Frau, die ihn liebenswürdig interviewte, viel über diesen 7. Oktober 1938 erzählt. Aber alles fiel der Bandschere zum Opfer...

Keiner weiteren Erwähnung wert erschien auch der Sturm der HJ auf das erzbischöfliche Palais am 8. Oktober 1938: das war der erste, große,

öffentliche Gewaltakt der Nazis, einen Monat exakt vor der „Kristallnacht“. Zeugen wären leicht zu finden gewesen; sogar Mitakteure. Einer davon wurde von der ORF-Fraii ausgiebig ausgehorcht: freilich nur nach seiner „historischen“ Meinung, nicht aber nach seinen Aktivitäten an jenem denkwürdigen Abend.

Auch der Uberfall auf Kardinal Innitzer am 2. Juli 1939 in Königs-brunn am Wagram fand in der In-nitzerdarstellung der ORF-Frau nicht statt. Damals ging der Kardinal durch einen Hagel von Steinen und faulen Eiern, sogar das Birett wurde ihm vom Kopf geschlagen. Der Regisseur der „nordischen Heldentat“, der Hauptschullehrer und Uhrmachermeister Fahnl aus Kirchberg am Wagram lebt noch. Wahrscheinlich hätte er vor dem Mikrophon geschwiegen. Aber daran wäre nichts zu manipulieren gewesen.

Besonders gravierend war das Unterschlagen von Innitzers Hilfstätigkeit für die getauften Juden: unter den Augen der Gestapo, die ihre Spitzel in der Portierloge des Palais ebenso sitzen hatte wie in Innitzers Beichtstuhl, organisierte der Kardinal seine Hilfsstelle, die vielen Menschen das Leben gerettet hat. Es wäre geradezu eine Selbstverständlichkeit gewesen, wenigstens einen von den Geretteten in der Sendung zu Wort kommen zu lassen.

Dafür beschäftigte sich die ORF-Frau während der halben Sendezeit-mit jenem Herrn Himmelreich, der Innitzer im Auftrage Bürckels im März 1938 hineinzulegen half. Ihm fuhr sie sogar nach Deutschland nach. Durch die Himmelreichtiraden wird die ORF-Frau aber nicht einmal in den ORF-Himmel eingehen, der irgendwo über dem Küniglberg graut.

Der Verfasser kann bezeugen: ausführlich besprochenes Bandmaterial wurde willkürlich zusammengeschnipselt, um die Aussagen dem verzerrten Innitzerbild der ORF-Frau anzupassen. Die Lehre daraus kann nur sein: im Umgang mit ORF-Menschen empfiehlt sich höchste Vorsicht! Manipulation ist immer noch an der Tagesordnung: sie dient weder der „Objektivität“ noch der „Meinungsvielfalt“, am wenigsten der Seriosität und schon gar nicht dem, was an jedem Menschenbild zu achten wäre.

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