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Die gefährlichen Grenzen

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Willkürliche Grenzziehungen können gefährliche Konsequenzen haben. Nirgends wird dies deutlicher als in Afrika und Südasien, wo die von den ehemaligen Kolonialmächten hinterlassenen Grenzen permanente Konfliktherde geschaffen haben.

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Willkürliche Grenzziehungen können gefährliche Konsequenzen haben. Nirgends wird dies deutlicher als in Afrika und Südasien, wo die von den ehemaligen Kolonialmächten hinterlassenen Grenzen permanente Konfliktherde geschaffen haben.

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Durch die Jahrtausende wurden die meisten Kriege um Grenzen geführt, um Lebens-, Macht-und Ausbreitungsräume von Stämmen, Nationen, Fürsten und Handelsherren. Heute glaubt man, Grenzziehungen zwischen einzelnen Staaten würden kaum noch zu Kriegen führen, Reichtum hinge ja auch nicht mehr vornehmlich von Landbesitz ab, sondern von technischen Kapazitäten.

Viel gefährlicher als umstrittene Grenzen seien die Gegensätze zwischen Ost und West, Nord und Süd und internationale ökonomische Probleme. Und es scheint richtig: Potentielle Grenzkonflikte werden innerhalb Europas, Nord- und Südamerikas kaum noch zu Kriegen führen.

In Südasien und Afrika ist die Lage aber gänzlich anders. Ganz Südasien (von Indonesien bis Palästina) und Afrika (dessen ans

Mittelmeer grenzende arabische Länder und die Südafrikanische Republik ausgenommen) sind infolge von Armut und/oder Chaos und des Fehlens starker Militärmächte ein enormes Macht-Vakuum, in dem 1.800 Millionen Menschen, fast 40 Prozent der Erdbevölkerung, leben.

Ein solches Vakuum lädt fremde Kräfte geradezu ein, zu intervenieren. Gewänne in diesem Vakuum eine der beiden Supermächte die Vorherrschaft, sie wäre wohl der Weltherrschaft sehr nahegekommen. Versuche einer der beiden Großmächte in dieser Richtung — wobei China und Frankreich ebenfalls ein wenig mitzuspielen versuchen — lösen Reaktionen der anderen aus, was zu dauernder Unruhe führen muß und eigenständigen Entwicklungen in den diversen Regionen im Wege steht.

In einer solchen Lage können Grenzziehungen, die ethnischer, historischer, kultureller, wirtschaftlicher und geographischer Vernunft widersprechen, die Völkerschaften, die nicht miteinander leben wollen, zusammenzwingen; oder sie können Völkerschaften, die zusammengehören, trennen, die Staaten schufen, die zu groß sind, um regierbar zu sein, oder zu klein, um Selbständigkeit zu erlauben.

In einer solchen Lage können unvernünftige Grenzziehungen leicht nicht nur lokale Konflikte, sondern auch den Großen Krieg auslösen; zumindest große Regionen in Krisen stürzen, unter denen nicht nur diese, sondern die ganze Welt zu leiden hätte.

Gerade deshalb ist es heute international und auch von der Organisation Afrikanischer Staaten (OAS) anerkannte Doktrin, afrikanische Grenzen dürfen um keinen Preis in Frage gestellt werden. Erlaubte man nur irgendeine Grenzverschiebung oder Sezession einer Provinz, würden Serien von latenten Grenzkonflikten und Sezessionsbestrebungen virulent werden und der Kontinent versänke im Chaos.

Ebensogut läßt sich aber auch behaupten, daß halb Afrika und ganz Südasien niemals zur Ruhe kommen können, werden nicht einige der allerunvernünftigsten Grenzziehungen korrigiert.

Nehmen wir als erstes Beispiel das ehemals britische Nigeria, mit

85 Millionen der volkreichste Staat Afrikas. Es ist ethnisch und kulturell ganz eindeutig in drei Zonen geteilt: den Norden, bewohnt von 40 Millionen hami-tisch-negrischen Völkerschaften, geeint durch den Islam und eine gemeinsame Verkehrssprache, die seiner 17 Millionen Haussa; neben diesen dominieren die sieben Millionen Fulbe.

Von den 25 Millionen schwarzen Bewohnern des Südwestens — in dem sich Nigerias Hauptstadt Lagos befindet — sind 17 Millionen Yoruba, die ersten Neger, die schon vor Jahrhunderten befestigte Städte bauten und sich durch gewerbliche Fähigkeiten auszeichnen; soweit nicht mehr Anhänger traditioneller Kulte, sind sie meist Anglikaner oder Protestanten.

Im Südosten sind unter 20 Millionen 15 Millionen Ibo und Ibido, Negervölkerschaften, die landwirtschaftlich ein hohes Niveau erreichten und von denen ein großer Teil katholisch ist.

Selbst bei der Dreiteilung Nigerias hätten sich Staaten ergeben, die für afrikanische Verhältnisse eher zu groß als zu klein sind — bedenkt man die dortigen Verkehrsund Kommunikationsverbindungen und die Tatsache, daß die meisten Völkerschaften eher ihnen ganz fremde, zivilisatorisch überlegene weiße Herren ertrugen, als sie heute Gouverneure akzeptieren, die zwar auch dunkelhäutig, aber hinsichtlich Religion, Gebräuchen und Sprache ihnen ebenso fremd sind, wie die früheren weißen.

Am 30. Mai 1967 proklamierte der Südosten unter dem Namen „Biafra" seine Unabhängigkeit von Nigeria. Nach einem blutigen Krieg, der eine oder sogar zwei Millionen Tote forderte, kapitulierte Biafra im Jänner 1970.

Weiterreichende Konsequenzen hatte dieser Krieg deshalb nicht, weil Großbritannien, die USA und die Sowjetregierung gemeinsam die Zentralregierung unterstützten, erstere, gemäß ihrer Pro-Status-Quo-Doktrin, letztere, um islamische, also arabische Sympathien nicht zu gefährden. Nur Frankreich und — im Rahmen seiner Möglichkeiten — der Vatikan halfen Biafra.

Anfang dieses Jahres hat neuerlich ein Militärputsch der islamischen Offiziere des Nordens mit einer schein-demokratischen Regierung Schluß gemacht. Bräche heute ein ähnlicher Bürgerkrieg wiederum aus — die internationalen Konsequenzen wären viel weitreichender als damals.

Die „Republik" Tschad (4,3 Millionen Einwohner, 1,3 Millionen Quadratkilometer) grenzt an Niger im Westen, den Sudan im Osten, Libyen im Norden und Nigeria, Kamerun und die Zentralafrikanische Republik im Süden. Frankreich hatte aus diesem überaus dünn besiedelten Gebiet eine Provinz gemacht, die sein westafrikanisches Kolonialreich von den Besitzungen Englands und Italiens separieren sollte.

Diese Provinz wurde zu einem souveränen Staat, der seit 1960 als solcher weder leben noch sterben kann:

Die Hälfte seiner Bevölkerung machen islamische Araber, arabi-sierte Neger und Berber und Fulbe aus, die im Norden und Osten leben. 40 Prozent sind Neger, teils katholisch und protestantisch, die Bevölkerung des Südwestens. 10 Prozent sind muslimische, negrisch-hamitische Haussa, die als Händler, Bürger und Gewerbetreibende über das ganze Land verteilt sind und sich zwischen den beiden Majoritäten zu behaupten suchen.

Seit der „Unabhängigkeit" stehen Norden und Osten im Bürgerkrieg gegen den Südwesten. Den Norden und Osten unterstützte Libyen mit Waffen, Instrukteuren und Soldaten, den Südwesten Frankreich.

Der Norden wäre wohl glücklich, sich dem durch seine Erdölfelder reich gewordenen Libyen anschließen zu können. Dem Südwesten wäre durch Vereinigung mit der ebenfalls ex-französischen Zentralafrikanischen Republik (zweieinhalb Millionen Einwohner) geholfen, durch die die wichtigsten Handelswege des Tschad führen. Im Norden und Osten ist Arabisch, im Süden Französisch die Verkehrssprache.

Die Teilung des Tschad könnte also wahrscheinlich den Frieden bringen. Doch da afrikanische Grenzen heilig sind, wird der Bürgerkrieg wohl weiterschwelen, nachdem sich jetzt die libyschen und französischen Interventionstruppen zurückgezogen haben.

Das östliche „Horn" Afrikas, gelegen zwischen Indischem Ozean und Rotem Meer, teilen sich Äthiopien und Somalia, abgesehen von dem Hafen- und Zwergstaat Dschibuti.

Äthiopien hat 33 Millionen Einwohner, davon nur ein Drittel die regierenden, eine semitische Sprache sprechenden Amharen, hervorgegangen aus einer Vermischung jemenitischer Araber mit Hamiten und Negern.

Zwei Drittel der Bevölkerung Äthiopiens gehören hamitisch-negrischen Völkerschaften an, die hamitische Sprachen sprechen. Unter diesen 15 Millionen Gallas — neun Millionen Muslims und sechs Millionen wie die Amharen koptische Christen — und, bis vor wenigen Jahren, eine Million muslimischer Somalis.

Sechs Millionen Somalis leben in geschlossenem Siedlungsgebiet im südlichen Teil des afrikanischen Horns. Zu Ende des vorigen Jahrhunderts war das Kernland der Somali mit ihrer Hauptstadt Mogadischu italienische Kolonie. Verträge zwischen den Kolonialmächten Italien, Äthiopien und England überließen einen Teil des Somali-Landes Äthiopien, einen anderen der britischen Kolonie Kenia.

1936 wurde das äthiopische Kaiserreich von Italien erobert, 1941 wiederhergestellt und 1952 durch die frühere italienische Kolonie

Eritrea vergrößert. 1963 wurde das „schwarze" nicht-muslimische Kenia unabhängig.

Alle diese Gelegenheiten, dem während dieser Zeit auch unabhängig gewordenen Somalia die von ihm abgetrennten Territorien zurückzugeben, wurden versäumt. Einige Hunderttausende Somalis verblieben — nutzlos, unzufrieden und rebellisch — in Kenia, eine Million in Äthiopien. Von diesen sind mehr als 500.000 seither nach Somalia geflohen, das nunmehr fünf Millionen Einwohner hat.

Nach dem Sturz des Negus, 1974, und dem Ausbruch des Chaos in Äthiopien verbündete Somalia sich mit der Sowjetunion und räumte ihr den Hafen Berbera als Flottenstützpunkt ein — im Vertrauen darauf, mit deren Rückendeckung mit der amharischen Herrschaft über die Somali-Provinz Ogaden Schluß machen zu können.

Die amharischen Generäle, die sich nun nicht nur dem inneren Aufruhr in einigen Provinzen, sondern auch einem äußeren Feind gegenübergestellt sahen, wendeten sich ihrerseits an die Sowjetunion.

Obwohl Somalia der Arabischen Liga angehörte, entschied die Sowjetunion zugunsten des größeren und wichtigeren Äthiopien, schickte dem Waffen, Geld,

Instrukteure und 12.000 kubanische Soldaten. Die Kubaner zogen mit Erfolg der demoralisierten äthiopischen Armee die Korsettstangen ein, die dann die somalischen Soldaten bis über die frühere Grenze zurückwarf.

Somalia blieb nichts anderes übrig, als schleunigst die Hilfe der USA zu erbitten. Es erhielt sie und überlebte dank dieser unter der Bedingung, die 1894 von den Kolonialisten gezogenen Grenzen anzuerkennen.

Der Kleinkrieg an der früheren Grenze aber geht weiter, Somalia leidet unter der Last der Flüchtlinge. Der Hafen Berbera steht nun der US-Marine zur Verfügung. Die Sowjets erhielten als Stützpunkt den äthiopischen Hafen Assab.

1947 wurde unter britischer Ägide das frühere Britisch-Indien in einen islamischen und einen hin-duistischen Staat geteilt. Vom islamischen Pakistan trennte sich inzwischen dessen ferne östliche Hälfte, Bangladesh.

Im heutigen Pakistan leben 87 Millionen Mohammedaner, von denen 85 Prozent drei indo-ari-schen Nationen zugehören, den Pandschabi, Sindhi und Urdu; weiters aber auch sieben Millionen Afghanen, die entlang der Grenze mit Afghanistan ihre Siedlungsbiete haben und deren Territorien die Engländer in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eroberten und Britischindien zuschlugen.

Statt 1947 auch diesen ihre Unabhängigkeit oder ihr Selbstbestimmungsrecht zuzugestehen, hatten sie nur die englische Herrschaft mit der der Pandschabi zu vertauschen.

Niemals haben die Afghanen sich mit der Amputierung, beziehungsweise Unterwerfung eines so großen Teils ihres Territoriums abgefunden. Deswegen wendete sich Afghanistan immer mehr seinem nördlichen Nachbarn, der Sowjetunion, zu. Nur so erklärt es sich auch, daß die sowjetische Interventions-Streitmacht in Afghanistan Kollaborateure fand und immer noch findet.

Statt eines befreundeten, brüderlich-islamischen Nachbarn hat Pakistan an seiner Nordwestgrenze nun die Sowjetarmee, einzig und allein infolge einer sinnlosen imperialistischen Grenzziehung in einem armen Gebirgs-land.

Es gäbe noch viele Beispiele, die nicht minder gefährliche Konsequenzen haben oder haben könnten. Es müßte versucht werden, einige der unsinnigsten Grenzziehungen doch noch zu korrigieren; nicht um Krieg, sondern um Frieden zu stiften.

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