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Die harte Schule der Demokratie

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Eine schlimme und schmerzliche Erfahrung ist für den polnischen Botschafter in Österreich, Wla-dyslaw Bartoszewski, die geringe Beteiligung an den Parlamentswahlen in Polen vom 27. Oktober. Jozef Tischner, geistiger Vater von Solidarnosc, ortet eine Niederlage des politischen Denkens im polnischen Christentum.

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Eine schlimme und schmerzliche Erfahrung ist für den polnischen Botschafter in Österreich, Wla-dyslaw Bartoszewski, die geringe Beteiligung an den Parlamentswahlen in Polen vom 27. Oktober. Jozef Tischner, geistiger Vater von Solidarnosc, ortet eine Niederlage des politischen Denkens im polnischen Christentum.

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„Wir gehen erst durch die harte Schule der Demokratie. Wir sind dabei, die demokratischen Regeln zu erwerben, aber die Wahlbeteiligung ist schlimm." Mit diesen Worten kommentiert der polnische Botschafter in Österreich, Wlady slaw Bartoszewski, die extrem niedrige Wahlbeteiligung von nur 40 Prozent bei den Wahlen zum Sejm vor eineinhalb Wochen. Alle Journalisten sämtlicher Zeitungen - so der soeben aus Polen nach Wien zurückgekehrte Bartoszewski zur FURCHE - seien der Meinung, daß Polen von einer politischen Kultur noch weit entfernt sei, es einen Mangel an politischer Erziehung gebe. Obwohl dies aufgrund historischer Gegebenheiten „verständlich" sei, ist für den polnischen Botschafter die Wahlbeteiligung eine „sehr schmerzliche Erfahrung".

Der polnische Botschafter verweist in Zusammenhang mit einer von Staatssekretär Slawomir Siwek in der FURCHE der vergangenen Woche (Seite 3) geäußerten Qualifizierung der Demokratischen Union Tadeusz Mazowieckis als „links" auf die Tatsache, daß in allen Parteien Polens mit Ausnahme der gewendeten Kommunisten Katholiken tätig seien, die mit der Kirche sehr verbunden sind.

Als Staatssekretär in der Präsidentschaftskanzlei habe Siwek sich so geäußert, daß nicht klar war, ob er als Mitarbeiter des Präsidenten oder als Parteipolitiker sprach, betont Bartoszewski. „Leider sind wir in Polen

Bartoszewski: Sehr schmerzliche Erfahrung noch nicht so weit wie Österreich unter Kardinal König, daß die Kirche keine Partei unterstützt." Die Polnische Bischofskonferenz hat zwar keine Wahlempfehlung abgegeben, einzelne Priester und auch Bischöfe haben jedoch offen zur Stimmabgabe für eine bestimmte Partei aufgerufen.

Der Krakauer Philosoph Jozef Tischner sieht in der Haltung vieler Polen, nicht zur Wahlurne zu gehen, einen Beweis, daß Polen das Wesen der Demokratie noch nicht verstehe. „Wir fühlen uns in Polen wie nach einem Erdbeben", faßt Tischner seine Gefühle zusammen. Die Wahlbeteiligung sei eine „Niederlage des politischen Denkens im polnischen Christentum" .

Tischner, der am 6. November vor katholischen Publizisten in Wien zum Thema „Noch ist Polen nicht verloren" sprach, konstatiert ein Zunehmen von antikirchlichen Strömungen in Polen. Es bestehe die Meinung, daß die katholische Kirche immer mehr Macht anstrebe. „Vor den Wahlen ist der Eindruck entstanden, daß die Kirche die für Polen wichtigen sozialen Fragen, nämlich die der hohen Arbeitslosigkeit und des Wohnungsmangels, beiseite geschoben und sich nur für den Religionsunterricht an den Schulen sowie für die Abtreibungsgesetze interessiert hat." Das habe zur Imageverschlechterung der katholischen Kirche in Polen „erheblich beigetragen".

Polarisierung in Polen

Jetzt - so Tischner - könnte es zu einer Polarisierung der polnischen Gesellschaft kommen. Die stärkste Partei, die Demokratische Union, die zu 80 Prozent aus Katholiken besteht, werde der Kirche gegenüber zunehmendkritischere Positionen beziehen. „Diesen Dissens zwischen der polnischen Kirche und der Demokratischen Union muß man als Katastrophe bezeichnen", betont Tischner. Die Kirche werde sich verstärkt auf ihre seelsorgerische Tätigkeit konzentrieren und „mehr auf Distanz zur Politik" gehen müssen.

Die Frage sei, „ob die Kirche imstande sein wird, Menschen für ihre Positionen in Fingen der Präsenz in der Schule oder gegenüber Gesetzen, die das ungeborene Leben schützen sollen, zu gewinnen."

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