Polen: Aufstand gegen die Kirche
Letzte Woche gingen Hunderttausende Polinnen und Polen auf die Straße, um gegen ein praktisch totales Abtreibungsverbot zu demonstrieren. Es war der größte Protest seit den Solidarność-Streiks der 1980er Jahre.
Letzte Woche gingen Hunderttausende Polinnen und Polen auf die Straße, um gegen ein praktisch totales Abtreibungsverbot zu demonstrieren. Es war der größte Protest seit den Solidarność-Streiks der 1980er Jahre.
„Wir müssen die Kirchen um jeden Preis verteidigen!“ Mit eindringlichen Worten appellierte Jarosław Kaczyński, der „starke Mann“ Polens und Vorsitzender der „Partei für Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), an seine Unterstützer. Mit Straßenblockaden, Streiks und Demos demonstrieren seit zwei Wochen Hunderttausende gegen einen Entscheid des polnischen Verfassungsgerichts. Und: Erstmals richtet sich der Unmut auch gegen die katholische Kirche, erstmals wurde auch innerhalb von Kirchengebäuden demonstriert. Friedlich, aber laut.
Anstoß der Proteste ist eine Verschärfung des Abtreibungsrechts, bereits zuvor eines der restriktivsten in ganz Europa. Seit 1993 herrscht in Polen ein generelles Abtreibungsverbot mit nur drei Ausnahmen: Gefahr für Leib und Leben der Mutter, Vergewaltigung sowie schwere Missbildungen des ungeborenen Kindes – jener Grund, auf den rund 98 Prozent aller legalen Abtreibungen zurückgehen. Künftig müssen Frauen auch jene Kinder austragen, die keine Überlebenschance mehr haben. „Jedes Kind soll einen Namen haben, getauft und begraben werden“, so die Begründung Kaczyńskis.
Weitere Proteste
Schon jetzt lassen jedes Jahr Zigtausende Polinnen in den Nachbarländern abtreiben. Mit der neuen Entscheidung bleibt Frauen dann überhaupt keine Möglichkeit mehr, legal einen Abbruch in Polen vorzunehmen. Weitere Proteste wurden angekündigt, die Organisatorinnen des „Allpolnischen Frauenstreiks“ wollen neben einer Aufhebung des Urteils nicht weniger als einen Rücktritt der Regierung und einen säkularen Staat. Das dürfte schwierig werden. Einerseits sitzt die Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ seit 2015 fest im Sattel und ging gestärkt aus den jüngsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Andererseits sind Politik und Kirche derzeit eng verbunden. Für Renata Mienkowska, Politologin an der Universität Warschau, ist evident, dass die Verschärfung der Abtreibungsgesetze ein Geschenk an die Kirche war, die sich in den Wahlen für die PiS eingesetzt hatte. Da das Verfassungsgericht seit dem Umbau der Justiz mit PiS-hörigen Richtern besetzt ist, sei die Entscheidung auf Druck Kaczyńskis passiert, erklärt Mienkowska.
Es ist bereits der zweite Versuch. Als Kaczyński 2016 ein ähnliches Gesetz im Sejm durchbringen wollte, gingen mehr als 100.000 Demonstranten auf die Straße („Czarny Protest“). Die Regierung zog ihr Vorhaben zurück – um es jetzt über das Verfassungsgericht wieder zu versuchen. Kaczyński rechnete wohl damit, dass inmitten der Coronakrise nicht viel an Gegenwind zu erwarten sei. Er verkalkulierte sich.
„Die Jungen sind wütend, das zeigt ihre Sprache. Anders als bei den früheren Protesten gegen den Umbau der Justiz fühlen sie jetzt, dass sie direkt betroffen sind“, sagt Małgorzata Fuszara, Anwältin, Soziologin und Gleichbehandlungs-Bevollmächtigte der Vorgängerregierung. Tatsächlich sind die überwiegend jungen Frauen in ihrer Wortwahl sehr direkt, „Verpiss dich, PiS“ ist noch eine der freundlicheren Aufforderungen. Auch wie offen sie über ihre Sexualität sprechen, sei neu, sagt Fuszara. Bei den aktuellen Protesten gelte, was schon in der Frauenbewegung der 1960er die Devise war: Das Private sei politisch.
Kirche mit Bedeutungsverlust
Diese Entwicklung hat auch mit dem zunehmenden Bedeutungsverlust der Kirche zu tun. Zwar sind mehr als 90 Prozent der Polen katholisch, doch im Leben vieler spielt der Glauben keine Rolle mehr. „Junge haben durch-
aus ein Bedürfnis nach Sinn, doch weiß die Kirche nicht, wie sie mit ihnen sprechen soll“, sagt die Soziologin.
Diesen Eindruck teilen auch Wanda Kaczor und Ignacy Dudkiewicz, die beiden jungen Chefredakteure des Magazyn Kontakt.
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