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Die Kinder gehen im Lärm unter
Eine Schulklasse - offenbar auf einem Ausflug - stürmt das Unterdeck der Fähre, die das Festland mit den Inseln verbindet. Ich habe mich dorthin zurückgezogen, weil es von den Fahrgästen relativ wenig aufgesucht wird und deshalb mehr Gewähr für Stille bietet. Das Hereinbrechen der rund 20 etwa Zehnjährigen steht dem entgegen.
Was zunächst nur wie die übliche freudige, beredte Unruhe erlebnishungriger Ausflügler zu sein scheint, nimmt in zunehmendem Maße eindrucksvolle Formen an. Drei der Kinder haben Transistorgeräte aus ihrem Gepäck geholt. Lärm aus der Röhre auf Hochtouren durchhallt den Raum. Einige beginnen sich gegenseitig zu knuffen, zu rangeln, einander Sitzplätze streitig zu machen und sich voneinander zu erboxen, obgleich reichlich Platz vorhanden ist.
Andere sitzen wie apathisch ungerührt im Tohuwabohu, strecken die Beine von sich und glasen -Kaugummi kauend - vor sich hin. Einige wenige haben sich um die Lehrerin geschart und reden laut, wie Alte gestikulierend, auf sie ein.Kaum eines der Kinder wirft auch nur einen Blick aus dem Fenster auf das Meer, oder verfolgt das Manövrieren der Fähre.
Kinderverhalten heute: Als „angenehm-frech" bis „autonomselbstverständlich" wird es von den Erwachsenen jovial toleriert, ja hofiert und gefördert. Aber ist es wirklich so positiv zu bewerten?
Viele Lehrer entdecken Schattenseiten: Unruhe behinderte die Konzentrationsfähigkeit im Unterricht, die Gruppe sei keine Gemeinschaft sondern Masse von einzelnen - so geht ihre Klage.
Was läßt sich aus kinderpsychotherapeutischer Sicht zu dem Phänomen vermerken? In der Tat unterscheidet sich das moderne Kind in verschiedener Hinsicht von der Kindergeneration vor ihm. Es agiert viel unbekümmerter, unbedenklich-selbstbezogen in der Welt, oft mit einer geradezu wie aufgezogenen Motorik, scheinbar sicher bis frech weiß es sich zu behaupten, nimmt in Anspruch, oft sogar über das ihm Angemessene hinaus.
Bescheidenheit, Höflichkeit, Be-eindruckbarkeit - das sind Eigenschaften, die den meisten abhanden gekommen zu sein scheinen. Gewiß gibt es immer noch Ausnahmen; aber in der Gruppe ist der moderne Typ so dominant, daß andere Spielarten darunter geradezu zu verschwinden scheinen.
Nun gehört es zu den Grunderkenntnissen der Kinderpsychologie, daß sich typische Verhaltenscha-rakteristika durch einen typischen Verhaltensstil in der Umwelt in einer bestimmten Weise ausprägen. Den vorherrschenden Kindertyp heute gab es einst nur gelegentlich und zwar meist unter den jüngeren Kindern einer großen Geschwisterschar, um die sich die Eltern wenig kümmerten.
Das moderne Kind hat hier anscheinend relativ oft einige ähnliche Grundvoraussetzungen: Zwar kommt es seltener noch aus kinderreichen Familien, aber es wird meist auch bereits früh Kindergruppen anheimgegeben, in denen es sich behaupten muß.
Aber von der Robustheit des jüngeren Kindes aus Orgelpfeifenfamilien unterscheidet sich das moderne Kind durch eine dem Laien oft gbr nicht ins Auge fallende Eigenschaft, die aber den Kinderpsychotherapeuten beunruhigen muß: Die staunend-of f ene Empfindungsmöglichkeit, die erlebnishungrige Neugier scheint bei immer mehr Kindern eingeschränkt zu sein.
So etwas wie Abgebrühtheit tut sich auf, eine Gelassenheit also, die nicht positiv zu bewerten ist, weil sie durch Stumpfheit charakerisiert ist. Das aber ist eine typische Folgeerscheinung von Überstimulation.
Es ist unschwer zu erraten, wie sie entsteht: Wird doch ein Großteil der Kinder heute durch ihre Kindheit hindurch einer visuellen und auditiven Überreizung ausgesetzt, oft durch einen fortgesetzt laufenden Fernsehapparat im Familienbereich mit seiner Überfülle an Bildeindrücken, mit drastischen, nicht integrierbaren Inhalten von Crime und Sex, durch Dauerlärmkulisse aus dem Radio, durch ein Übermaß an Spielangehot, durch ein Einge-wobensein in den hektischen Alltag der Erwachsenen, durch vielerlei Hin- und Hergeschobenwerden zwischen Betreuern, Unterhaltern, Hobbys und Freizeitprogrammen.
Nicht böser Wille der Erziehenden bewirkt das im allgemeinen, im Gegenteil. Viele Eltern hoffen, ihren Kindern etwas besonders Gutes zu tun, indem sie ihnen alles nur Erdenkliche bieten: „Sozialisation" durch frühes Abgeben in Gruppen von Gleichaltrigen, Begabungsentfaltung durch frühe Motivation zu gezielter Leistung, durch ein Ubermaß an Anregung, durch die frühe Verschulung darüber hinaus.
Wie in einem hektischen Wettrennen wird versucht, die sogenannte „Kreativität" des Kindes durch ein Übermaß an Stimulation zu fördern. Und dennoch kommt in den seltensten Fällen auf diese Weise eine große schöpferische Begabung zur Ausprägung-im Gegenteil: Die frühen Überdosierungen scheinen sie.geradezu zu ersticken.
Ohne eine artifizielle Behinderung durch die Umwelt beginnt bereits jedes ungeängstigte dreijährige Kind von selbst, seine Phantasie zu entfalten. Intuition, Gefühlsreichtum, Offenheit für das Wunderbare und Einfallsreichtum kennzeichnen ein seelisch gesund entfaltetes vier- bis siebenjähriges Kind.
Aber wenn die Umwelt, in der es sich aufhält, von Vorgefertigtheiten erfüllt ist, so fehlen dazu die Voraussetzungen: Die Stille, die Muße, das Unbeeinträchtigtsein von den so vielfältig gewordenen Möglichkeiten von Zerstreuung und Ablenkung.
Gesund kann sich die Seele des Menschen nur entfalten, wenn man ihr hier über Jahre in hinreichender Weise Spielraum zu besinnlicher Eigengestaltung zur Verfügung gestellt hat. Lärm tötet den Einfall von Ideen, ständiges Umringtsein von Gleichaltrigen läßt keinen Geistraum zur Ausgestaltung des eigentlich Individuellen des Kindes.
Zwar ist es in einem ihm unangemessenen hektischen Lärmrahmen genötigt, sich robust durchzusetzen und sich gegen den Lärm durch Abstumpfung und Selbstlärmen zu schützen - aber die Entfaltung seines Eigentlichen: seiner einmaligen kleinen Persönlichkeit bleibt dann aus.
Kinder vollziehen unbewußte Nachahmung mit dem Kindertyp, wie er im Nachmittagsprogramm des Fernsehens wieder und wieder zur Darstellung gebracht wird. Das psychologisch Bedenkliche besteht aber vor allem darin, daß eine zentrale Erwartung der Seele des Kindes nicht erfüllt, daß eine obligatorische Entwicklungsphase - die des magischen Welterlebens - unnachdenklich überwalzt wird.
Staunen über Neues, Großes, Unbekanntes kann es immer weniger. Das Gefühl bleibt aus, was aber dumpf als ein unbestimmter Mangel empfunden und dennoch gesucht wird! Dadurch kommt es bei den Heranwachsenden zu einem Bedürfnis nach immer mehr, immer lauterer, immer gröberer Stimulation.
Deshalb entsteht zwangsläufig das Bedürfnis nach hochpeitschender Musik, die immer lauter, immer gröber zu sein hat und immer unentbehrlicher wird, weil das unterentwickelte Gefühl nach rauschhafter Stimulation giert. Deshalb auch ist die immer größer werdende Anfälligkeit für Rauschgift nicht im mindesten zufällig!
Unsere laute Welt mit ihren meist viel zu frühen, den Kindern unangemessen dargereichten glitzernden Angeboten tut dem Wesen des Kindes Übles an durch das, was man ihm heute als „Alltag" zumutet.
Das 20. Jahrhundert sollte - laut der namhaften Pädagogin Ellen Key - zum „Jahrhundert des Kindes" werden. Es hat diesen Anspruch nicht erfüllt, sondern ist stattdessen einer Fehlvorstellung über die eigentlichen Bedürfnisse der Kinder erlegen. »
Mitten in der Moderne begannen die Erwachsenen in kurzsichtiger Unnachdenklichkeit ihre eigenen Bedürfnisse in die Kinder hinein zu projizieren und ihnen zu oktroyieren. Deshalb - hier hat der Amerikaner Neil Postman mit seinem Buch über den Verlust der Kindheit recht - wirken sie wie kleine Erwachsene; denn man hat sie um das Eigentliche ihrer Kindheit betrogen.
Wir können auch heute noch mit Liebe und Verantwortungsgefühl erwirken, daß die Seele unserer Kinder sich im Schutzraum eines von Muße erfüllten Familienfestes entfaltet. Aber dazu müssen wir sie beschenken: Mit unserer Hellhörigkeit, unserer Behutsamkeit, mit der Bereitschaft zum Verzicht auf ein Übermaß an Aktivität und unserer leidenschaftlichen Bemühtheit, ihren individuellen Entfaltungsspielraum zu verteidigen, wenn Techniken, Moden, Ideologien, Leistungszwang und ein überfüllter Alltag dazu ansetzen, ihm die Voraussetzungen zur inneren Ausgestaltung ihrer Seelen vorzuenthalten.
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