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Digital In Arbeit

Die Lust am Lesen

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Es ist heute wieder notwendig geworden, über das Buch nachzudenken. Ich meine damit nicht die Arbeit der Autoren, der Drucker und Verleger, der Buchhändler und die so notwendige Mitarbeit der Leser, sondern einfach den Gegenstand, den wir auf deutsch — aufgrund des germanischen Brauches, Buchenholz als Schreibmaterial zu benützen — Buch nennen.

Zuletzt waren es die Männer der französischen Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts, die sich veranlaßt sahen, für das Buch einzutreten, vor ihnen die Humanisten der Renaissance. Beide Gruppen versuchten, dem menschlichen Denken mehr Klarheit und dem klaren Denken eine größere Wirkung zu verschaffen. Ihr geistiger Kampf für das Buch hatte das Ziel, die zu ihrer Zeit allgemein verbreitete, von Gefühlen beherrschte irrationale Denkungs-art zu überwinden. Diese ist für die große oder kleine Gemeinschaft der Analphabeten charakteristisch.

Die bücherlose Gemeinschaft muß die Erhaltung und die Weitergabe ihres Wissens der mündlichen Uberlieferung überlassen. Da diese emotionell wirken muß, um im Augenblick — und für sie existiert nur der Augenblick — aufgenommen zu werden, muß sie den Gedanken oft durch das Bild, durch die Allegorie ersetzen. Zudem wirkt mündliche Uberlieferung nur in einem Kreis gleichge-sinnter Zuhörer; das setzt die Existenz eines Kollektivs voraus.

Zur Zeit des Auftretens der Humanisten im 15. Jahrhundert bestand das breite Publikum aus solchen mehr oder minder geschlossenen Gemeinschaften von Illiteraten. Während der folgenden zwei Jahrhunderte ist die Zahl der Analphabeten wohl wesentlich kleiner geworden, aber für die Männer der Aufklärung schien sie — an den Notwendigkeiten der Zeit gemessen — immer noch zu groß.

Wir befinden uns heute in einer ähnlichen Lage wie jener, in der sich damals die Humanisten und die Aufklärer befunden haben.. Wir stehen neuen Formen des Kollektivs gegenüber, in dem das Individuum,der eigenen Bequemlichkeit folgend, verschwindet. Das Kollektiv entwickelt abermals die ihm angemessene Den-kungsart, die von Gefühlen, irrationalen Vorurteilen und natürlich von Bildern beherrscht wird. Niemals in der Geschichte haben so viele Personen ein einziges Bild zur gleichen Zeit betrachtet. Ich meine das Fernsehen. Bei diesem Punkt scheinen zwei Zwischenbemerkungen angebracht.

Ich bin Ethnologe von Beruf und außerdem Schriftsteller, der also den Mythos und das Volksmärchen, die Kunst der mündlichen Uberlieferung bewundert und als Schriftsteller bemüht ist, die Dinge bildlich darzustellen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß die Kultur und auch der einzelne, der Mythos und Magie mißachtet, notwendigerweise untergeht. Solche dem Menschen immanente Energien können nicht einfach abgeschaltet werden.

Und zweitens: Fernsehen und Radio sind große Errungenschaften nicht nur der Technik, sondern der Kultur. Sie arbeiten beide aufgrund literarischer Vorlagen. Sie verbreiten Bildung, wecken Bedürfnisse, erweitern auch das visionäre Vermögen. Zwischen den elektronischen Massenmedien und dem Buch besteht kein Gegensatz. Es ist allerdings festzustellen, daß das Fernsehen, wenn es mediengerecht ist, vereinfachen muß. Bilder sind flüchtig. Sie müssen im Augenblick wirken. In einem Film kann man nicht zurückblättern.

Das Buch ist seit etwa dreitausend Jahren jener Gegenstand, der geistige Inhalte in dichtester Form vermittelt und dabei die schöpferische Kraft des Lesers mobilisiert. Wir haben zum Ausdruck sinnvoller und zugleich sinnlicher Inhalte kein besseres Mittel als die Sprache. Sie ist, als Medium der Vermittlung, an die Schriftzeichen gebunden. Diese müssen aber dechiffriert werden, und hier setzt die Kraft ein, die die' schöpferische Phantasie mobilisiert. In Bildern festgehaltene Wirklichkeit nehmen wir zur Kenntnis; geschriebene Wirklichkeit müssen wir selbst in Bilder verwandeln. Diese aufgrund des Lesens von uns selbst geschaffenen Bilder sind unsere eigenen Geschöpfe.

Das hohe Alter des Buches erscheint nur dann verwunderlich, wenn wir das Buch mit dem Namen Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, verbinden. Die Bücher des alten Ägypten und der griechischen Antike waren nicht gedruckt; Kopisten, meistens Sklaven, sorgten durch Abschriften für die Verbreitung. Im 5. Jahrhundert v. Chr. gab es in Athen bereits einen blühenden Buchhandel. Er arbeitete auch für den Export. Hier gewinnt der Rückblick Aktualität. Denn natürlich wurden auch damals geistige Inhalte mündlich überliefert. Die Käufer der Bücher waren

nicht die Hirten und Bauern, die Sklaven und die kleinen Handwerker. Das Buch blieb einer Elite vorbehalten. Das Auftreten der Humanisten hat daran wenig, das Wirken der Aufklärung wesentlich mehr verändert.

Wir sind heute dabei, in die Lebensform des Kollektivs, in den mehr emotionellen als rationellen Bereich der mündlichen Uberlieferung zurückzufallen. Wir schauen uns jeden Abend Bilder an, hören jeden Tag irgendwelche Texte und Informationen, und erzählen sie weiter. Der Vorgang wäre verhängnisvoll, wenn er das Bücherlesen ersetzte. Als Ergänzung des Bücherlesens wirkt er bereichernd.

Denn mit dem Buch sind zwei seit jeher von den besten Geistern herbeigesehnte Werte verbunden: Einsamkeit und Freiheit.

Das Wort Einsamkeit bedarf einer Erklärung, besonders in einer gesellschaftlichen Atmosphäre, die Einsamkeit für ein Übel hält — ganz so, als wären Ge-

fühle unserer Pubertät für die gesamte Sozietät verbindend. Einsamkeit ist der natürliche Zustand jedes Lebewesens, auch wenn das Alleinsein in das Rudel, in die Sippe, in die Familie, in die verträumte Zweisamkeit zweier Liebender eingebunden ist. Die Erkenntnis dieser fundamentalen Einsamkeit macht zwar nicht unabhängig, aber bewußt. Nur solche Bewußtheit erlaubt es uns, sozial zu sein. Der Bücherleser befindet sich allein. Er muß nicht in einer größeren Gemeinschaft die mündliche Uberlieferung zu sich nehmen, sondern kann seine Lektüre selbst aussuchen. Er kann das Buch zur Seite legen oder sich im gelesenen Text verlieren. Er kann ein Buch auch als einen Gegenstand genießen: den Geruch frischer Druckerschwärze, zum Beispiel, die graphische Gestaltung des Schutzumschlages, die Berührung des Papiers, die Form der Buchstaben — ob sie nun aus der edlen Familie Garamond stammen oder dem schlichten Schriftbild der Helvetica angehören. Er kann ein Buch verschen-

ken und durch Text, Form, Gewicht, Geruch, Farbe des Buches unterschwellige Gedanken zum Ausdruck bringen. Versuche jemand ein Fernsehprogramm zu schenken oder auch nur eine Filmkassette! Der Unterschied ist offenkundig.

Die Intimität des Buches als Geschenk entspringt nämlich nicht nur diesem sinnlichen und geistigen Reize. Filme sind Hervorbringungen eines Teams. Im Buch spricht meistens ein einziger Mensch, und in einer guten Anthologie ertönt ein Choral. Zudem braucht man zur Reproduktion keine Apparate. Es genügt der eigene Denkapparat; und es gibt uns ein Gefühl des Glücks, diesen in Bewegung zu setzen. Beim Drücken auf Tasten stellt sich das gleiche Glücksgefühl nicht ein.

Und hier, im eigenen Denkapparat, beginnt unsere fast grenzenlose Freiheit. Unsere Möglichkeit, die Romanfiguren nach den Gesetzen der eigenen Erfahrung und der eigenen Phantasie für uns selbst neu zu erschaffen, den Rhythmus der Lyrik mit dem Pulsieren des Blutes in Einklang zu bringen, die Mitteilungen eines Sachbuches als eigenes Abenteuer zu erleben, oder das Buch in einem Akt der rebellischen Ablehnung zur Seite zu schleudern — oder weiterzuschen-ken. Und dabei wurden die Lust am Schmökern, das Hinabtauchen des geistigen Tiefseeforschers in das überreich ausgestattete Zwielicht der Antiquariate noch gar nicht erwähnt.

Die Bücherleser und die Bücherschreiber aller Zeit bilden eine einzige Menschenkette, eine sanfte Allianz der Einsamkeiten, eine Versammlung, die begriffen hat, daß das Kleinste und das Größte miteinander verbunden sind. Wir verwandeln unsere Visionen in die Zeichensprache des Alphabetes und sind dann in der Lage, aus den winzigen Chiffren der Buchstaben die Existenz einer ganzen Welt — einer eigenen Phantasiewelt — herauszulösen.

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