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Europa der Brüder

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Genau 100 Jahre nach der Österreicherin Bertha von Suttners drängendem Appell „Die Waffen nieder“ (der Roman erschien 1889 in Dresden) und 50 Jahre nach dem Angriff Hitler- Deutschlands auf Polen (Beginn des Zweiten Weltkriegs) will ein offenbar geläutertes, von den Supermächten aber noch immer fremdbestimmtes Europa Truppen und Waffenarsenale in einem Ausmaß abbauen, das künftige

Kriege verhindern soll. Militärische Kapazitäten sollen auf reines Selbstverteidigungsniveau reduziert werden.

Seit Donnerstag dieser Woche laufen in Wien parallel zwei Konferenzen im Rahmen des KSZE- Prozesses: die sogenannten 23er Gespräche der Militärallianzen Warschauer Pakt und NATO (offiziell Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa VKSE) und die Verhandlungen über vertrauen- und sicherheitsbildende Maßnahmen (VVSBM) der 35 KSZE-Staaten.

Für die Warschauer-Pakt-Staa- ten legte Eduard Schewardnadse bei dem diesen Konferenzen vorgelagerten Außenministertreffen in der Wiener Hofburg einen Dreistufenplan zur Truppenreduzierung vor — auf der Basis der Überzeugung, „daß die Sicherheit in immer größerem Ausmaß nur von nichtmilitärischen Mitteln gewährleistet werden kann“. „Das überholte Kriterium — je mehr Waffen, desto zuverlässiger die Sicherheitsgarantien — ist durch ein alles durchdringendes Mittel ersetzt worden: durch den Faktor des Vertrauens, der sich zu behaupten beginnt“, hielt Schewardnadse fürs erste fest.

Während für den Warschauer Pakt - neben der angekündigten Vorleistung einseitiger Truppen- und Waffenreduzierungen (FURCHE 3/1989) — der (prozentuelle) Abbau der Streitkräfte im Vordergrund steht, hat sich die NATO auf Obergrenzen bei Panzern, Artilleriesystemen und Schützenpanzern eingeschworen; auf jene Bereiche also, in denen eine starke Überlegenheit des Warschauer Paktes angenommen wird (siehe Graphik).

Wenn damit ein hartes Ringen — vielleicht auch Feilschen — in Wien und ein langer Konferenzverlauf als sicher erscheinen, ist trotzdem das, was hier passiert, der Abschied vom militaristischen Denken.

Politische Macht soll künftig keine Funktion militärischer Potenz mehr sein. Was das für die einzelnen europäischen Staaten innen- wie außenpolitisch bedeutet, kann im Moment noch gar nicht ermessen werden.

Trotzdem äußert sich in Westeuropa so etwas wie leise Furcht vor der Umarmung der Militärallianzen. Nach wie vor herrscht Unsicherheit in der Einschätzung der Sowjetunion: Will sie jetzt Europa mit dem Bruderkuß ersticken?

Trotz aller Bedenken: Der Westen muß auf die sowjetische Herausforderung - die diesmal eine eindeutig friedfertige ist — adäquat reagieren. Europa tritt am Platz, wenn bloß immer weitere Beweise der Vertrauenswürdigkeit des sowjetischen Partners verlangt werden. Auch das Abwarten, was mit Michail Gorbatschows Reformen passiert, lähmt.

Dem neuen amerikanischen Außenminister James A. Baker darf Zaudern noch nicht angerechnet werden. Seine Forderung, die Sowjetunion möge sich eindeutig von der sogenannten Breschnew-Doktrin distanzieren, geht aber an der Wirklichkeit vorbei. Mehr als einmal hat Gorbatschow die völlige Eigenständigkeit der Warschauer-Pakt-Staa- ten bei der Gestaltung ihres politischen Lebens betont. Und die osteuropäischen Staaten nehmen ihn ja offensichtlich beim Wort.

Wesentlich ist, daß die NATO beweist, daß auch sie über die Grundlegung von Sicherheit auf bloß militärischer Basis hinausdenken kann. Und da spielt das Waffenzählen eine untergeordnete Rolle, wie Hans-Dietrich Genscher, Außenminister der Bundesrepublik Deutschland,

festhielt. Er sprach sich für einen Übergang von der „Machtpolitik zu einer Verantwortungspolitik in Europa“ aus.

In Wien - „Tor zum Osten und Fenster zum Westen“ (so der Bundespressedienst in einer Informationsbroschüre für ausländische Journalisten) - geht es um die Zukunft Europas, frei von militärischer Drohung, aber auch frei von Willkür gegenüber den Menschen diesseits und jenseits des bereits „rostigen Eisernen Vorhangs“ (James Baker).

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