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Hilfe gegen das totale Chaos

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Harvard University, 5. Juni 1947-vor 35 Jahren: In einer dramatischen Rede fordert der damalige US-Außenminister George C. Marshall seine Landsleute auf, den nach dem Krieg wirtschaftlich schwer angeschlagenen Europäern unter die Arme zu greifen. Der Marshall-Plan ist geboren.

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Harvard University, 5. Juni 1947-vor 35 Jahren: In einer dramatischen Rede fordert der damalige US-Außenminister George C. Marshall seine Landsleute auf, den nach dem Krieg wirtschaftlich schwer angeschlagenen Europäern unter die Arme zu greifen. Der Marshall-Plan ist geboren.

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Die Vereinigten Staaten sollten alles in ihrer Macht Stehende tun, um zu einer Rückkehr zu normalen weltwirtschaftlichen Zuständen beizutragen, ohne die es keine politische Stabilität und keinen gesicherten Frieden geben kann. Unsere Politik ist nicht gegen irgendein Land oder irgendeine Doktrin gerichtet, sondern gegen Hunger, Armut, Verzweiflung und Chaos. Ihr Zweck soll die Wiederbelebung einer funktionierenden Weltwirtschaft sein, die das Entstehen von sozialen Bedingungen zuläßt, in denen freie Institutionen existieren können...

Jede Regierung, die bereit ist, zur Aufgabe des Wiederaufbaues beizutragen, kann mit der vollen Zusammenarbeit von Seiten der Regierung der Vereinigten Staaten rechnen...

Aus der Harvard-Rede von Außenminister George C. Marshall am S. Juni 1947.

Den Lauf der Dinge in Europa hatten sich die Amerikaner nach dem Kriegsende 1945 anders vorgestellt: Washington erwartete eine rasche Erholung Europas. Statt dessen brachten die Verwüstungen in Industrie und Landwirtschaft die Volkswirtschaften der einzelnen Länder insgesamt stark ins Trudeln.

Eine neue Labour-Regierung in London ließ sich auf wirtschaftliche Experimente ein, kommunistische Streiks erschütterten Frankreich und Italien. US-Außenminister George C Marshall kannte die verzweifelte Situation der Europäer von einer Reise her, dementsprechend tief war seine Betroffenheit.

Dazu kam noch etwas: Die Beziehungen zwischen Washington und Moskau hatten sich merklich abgekühlt, das ohnehin brüchige Verständnis ging ganz verloren, als den Amerikanern durch das rücksichtslose Vorgehen Stalins in Osteuropa klar wurde, daß in der sowjetischen Auffassung von „Demokratie” der Pluralismus keinen Platz hat.

Wo lagen vor diesen wirtschaftlichen und politischen Hintergründen die Motive für den Marshall-Plan? Der damalige britische Außenminister Ernest Bevine beschrieb den Plan als eine „Rettungsleine für untergehende Menschen” und fügte hinzu, „daß die Großzügigkeit dahinter unglaublich war”. Die erste Behauptung trifft den Nagel auf den Kopf, die zweite wurde schon mehrfach stark angezweifelt.

Sicher ist, daß die amerikanischen Erfinder des Planes, Außenminister Marshall, Präsident Harry Truman, die Politik-Planer George Kennan und William Clayton, nicht allein von Idealismus motiviert waren. Schließlich mußte der Plan durch einen möglicherweise feindlich gesinnten Kongreß. Und besonders Clayton hielt es für angemessen, den Nutzen des „Europäischen Wiederaufbauprogramms” (ERP = European Recovery Programm) für die amerikanische Wirtschaft wiederholt herauszustreichen: Ein notleidendes, verarmtes Europa biete keinen Absatzmarkt für amerikanische Exporte.

Trotzdem: Diese Betrachtungsweise war zweitrangig und fragwürdig zugleich. Der Präsident, Marshall und Kennan handelten sowohl aus humanen Gründen wie aus der Befürchtung heraus, daß die Sowjetunion in einem im Chaos versunkenen Europa ein leichtes Spiel hätte.

Außerdem: Der wirtschaftliche Nutzen für Amerika aus dem Marshallplan war nur schwer vorauszusehen. Denn wer konnte mit Sicherheit seinen Erfolg garantieren?

Andererseits mußte den Erfindern klar sein, daß ein wirtschaftlich wiedererstarktes Europa eines Tages als Konkurrenz der Amerikaner auf den Weltmärkten auftreten würde. Das linke Argument von der „Dollar-Diplomatie” steht also auf eher schwachen Füßen.

Wesentliche Überlegungen in Zusammenhang mit dem Marshall-Plan betrafen Deutschland. Schon früh war Experten wie George Kennan klar, daß der Wiederaufbau Europas ohne die Einbindung Deutschlands nur eine halbe Sache war. Dagegen stemmte sich aber die Sowjetunion, gleichermaßen jedoch auch Frankreich.

Die französische Zustimmung zum Wiederaufbau Deutschlands wurde mit dem Marshall-Plan dann aber gewissermaßen „erkauft”: indem Frankreich 2,7 Milliarden Dollar gegenüber „nur” 1,4 Milliarden für Deutschland erhielt.

Osterreich war ein wesentlicher Nutznießer der ERP-Mittel, für die der „Foreign Assistance Act” vom 3. 4. 1948 die gesetzliche Grundlage bot. Es erhielt 667 Millionen Dollar, mehr als die 556 Millionen für Belgien und Luxemburg mit beinahe der doppelten Bevölkerungsanzahl.

Insgesamt flössen in den Jahren 1948 bis 1952 im Rahmen des ERP 12,4 Milliarden Dollar nach Europa, genug, um den drohenden Kollaps der westeuropäischen Volkswirtschaften zu verhindern und einen Wirtschaftsboom einzuleiten. Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges genos-. sen die meisten Westeuropäer einen höheren Lebensstandard als jemals zuvor in ihrer Geschichte.

Der vielleicht wichtigste Faktor des Marshall-Planes aber war, die Europäer zur Zusammenarbeit zu bewegen. In seiner Harvard-Rede bestand Außenminister Marshall darauf, daß die „Initiative von Europa kommen” und es „ein gewisses Maß an Ubereinstimmung unter den europäischen Ländern geben muß”.

Nach Ansicht Washingtons mußte der wirtschaftlichen Zusammenarbeit früher oder später die politische folgen, und die Amerikaner übten auch Druck in dieser Richtung aus — mehr als es etwa den Franzosen und Engländern lieb war, nach Ansicht anderer wiederum zu wenig.

Aber die USA suchten in Westeuropa — vielleicht mit der Ausnahme Westdeutschlands — nach Alliierten und nicht nach Satelliten. Die gegenwärtigen Spannungen und Konflikte in der westlichen Allianz zeigen, daß die „Wünsche” Washingtons in Erfüllung gegangen sind; aber vielleicht ist die NATO gerade deswegen um so gesünder.

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