Von der Klimakatastrophe bis zum Ukrainekrieg: Apokalypse-Blindheit

19451960198020002020

Die Unfähigkeit zur Angst angesichts der möglichen Zerstörung der Welt thematisierte Technik-Philosoph Günther Anders schon vor Jahrzehnten. Überlegungen, die heute nicht minder gelten.

19451960198020002020

Die Unfähigkeit zur Angst angesichts der möglichen Zerstörung der Welt thematisierte Technik-Philosoph Günther Anders schon vor Jahrzehnten. Überlegungen, die heute nicht minder gelten.

Werbung
Werbung
Werbung

Vor wenigen Tagen war im neuesten Copernicus-Klimabericht einmal mehr zu lesen, wie dramatisch rasant der Klimawandel vonstatten geht. Der auf den Daten europäischer Wettersatelliten beruhende Bericht legt nahe, dass die Erderwärmung schneller vor sich geht und die Auswirkungen gravierender sein werden, als selbst Realisten meinten. Die Wetter­kapriolen des Jahres 2021 in Europa waren so kein Menetekel mehr, sondern Zeichen kaum mehr revidierbarer Naturveränderungen durch Menschenhand.

Soeben hat Russland begonnen, Gaslieferungen nach Europa zu stoppen – den Anfang dabei spüren Polen und Bulgarien. Umwelt- und Infrastrukturministerin Leonore Gewessler (Grüne) verbreitet aber weiter das Mantra, Österreich sei nicht betroffen.

Zur selben Zeit geistern auch „Argumente“ der Impfgegnerpartei MFG gegen die CO₂-Steuer durchs Netz: „Solange man in chinesischen Flüssen Fotos entwickeln kann, ist es nicht sehr sinnvoll, den Kfz-­bedingten CO₂-Ausstoß mit unfassbarem Aufwand um 0,02 Prozent zu senken.“

Die drei hier angerissenen Beispiele, denen tagtäglich unzählige weitere hinzugefügt werden können, sind untrügliche Indizien für eine Apokalypse-Blindheit, die schon seit Langem grassiert.

Den Begriff hat der Technikphilosoph Günther Anders (1902–1992) nach der Erfahrung der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki geprägt. Anders meint damit die Unfähigkeit zur Angst angesichts der möglichen Zerstörung der Welt. Die Menschheit weiß um die Katastrophe, sie ist aber nicht imstande, sich die Katastrophe auch vorzustellen.

Atomkrieg als Möglichkeit beschworen

Der Ausgangspunkt Hiroshima ist zurzeit ja neu drängend: Dass Russlands Außenminister wieder davon spricht, ein Atomkrieg sei möglich, zeigt, dass die jahrelange Verdrängung dieser Gefahr aus dem öffentlichen Bewusstsein nichts anderes als diese Apokalypse-Blindheit darstellt. Und muss man nicht auch feststellen, dass niemand die Gräuel und Gemetzel in der Ukraine vorhersehen mochte?

Der russischen Aggression in Europa gesellt sich das Augenverschließen vor der Klimakatastrophe hinzu, die eben nicht minder zukunftsbedrohend ist: Dass die Welt am Abgrund steht, will die Welt – nimmt man jedenfalls das Handeln der Menschen darin zum Maßstab – nicht wahrhaben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung