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Liebe zu Gott -Liebe zum Nächsten

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An zwei Geboten hängt für Jesus die ganze Heilsbotschaft: an der Liebe zu Gott und an der Liebe zum Nächsten. Aber wie verhält sich beides zueinander? Auf den ersten Blick scheinen da zwei Eigenschaften neben- und hintereinander zu stehen, so als ob es zwei Arten von Liebe gäbe: erstens die Liebe zu Gott und zweitens die Liebe zum Nächsten.

Und in der Tat: Für nicht wenige Christen sind das zwei völlig verschiedene Angelegenheiten. Bei manchem ist die Liebe zum Nächsten, also Mitmenschlichkeit, Verträglichkeit und soziales Engagement, so sehr von der Liebe zu Gott getrennt, daß man das eine werktags praktiziert, und sonntags allenfalls Raum hat für das zweite, für den Dienst Gottes, für den Beweis unserer Hingabe und Liebe zu ihm.

Sind Nächstenliebe und Gotteshebe also zwei verschiedene Verhaltensweisen? Nein, sagen andere! Gottesliebe ist überhaupt entbehrlich, sie ist ein „religiöser Uberbau“ über dem einzig Wichtigen und Entscheidenden, über der Liebe zum Nächsten. Den Nächsten heben, das ist

schon Gottesliebe. Es ist gleichsam eine Chiffre, die sagen will: Nächstenhebe ist das Wichtigste, das Höchste, ja, ist selbst etwas „Göttliches“.

So stellt sich noch einmal die Frage: Sind Nächsten- und Gotteshebe zwei verschiedene Angelegenheiten oder überhaupt ein und dasselbe? Geht es nur um die Nächstenliebe? Oder gibt es ein Verhältnis zwischen beiden, das wir noch gar nicht bedacht haben?

Was geschieht eigentlich da, wo sich Liebe, Freundschaft und Zuneigung ereignet, wo sich wirkliche Liebe ereignet, wo der andere nicht nur sehr subtiles Mittel für den eigenen Egoismus ist? Wenn ich wirklich hebe, trete ich heraus aus der erstik-kenden und oft so schrecklichen Enge meines Selbst, meiner Ichverklemmtheit, aus der Hölle meiner Einsamkeit. In der Liebe verlasse ich mich selbst, um mich vorbehaltlos auf, ja in den anderen einzulassen.

Aber wie ist das möglich: sich selbst verlassen um des andern willen, sich selbst öffnen, um den andern einzulassen? Gibt denn der andere Grund und Sicherheit dafür, daß ein solches Sich-Aufgeben und Sich-Ein-lassen in den anderen sinnvoll ist, gelingt und erfüllend ist? Besteht nicht die Gefahr, daß man in die Hölle des anderen gerät, wenn man seiner eigenen Hölle, Enge und Einsamkeit entflieht? Kann man da nicht in die versperrte Enge des anderen geraten, die ebenso entsetzlich eng ist wie die eigene? Wie kann ich also wirklich heben, mich verlassen, mich hingeben, mich mit dem anderen identifizieren, wo doch der andere nie und nimmer solche Liebe verdient, tragen und ihr entsprechen kann, so wie umgekehrt ich selbst ja auch solcher Liebe des anderen nicht Grund und Entsprechung bieten kann?

Wir alle sehnen uns nach wahrer Liebe, wir wollen lieben und selbst gehebt werden; aber wir erfahren gleichzeitig, daß wir selbst und der andere eigentlich unserer Sehnsucht nach Liebe nicht entsprechen können. Liebe und Enttäuschung gehören sehr eng in unserer Erfahrung zusammen. Von der Liebe gilt, was Paul Claudel einmal so formuliert hat: Der Partner ist „ein Versprechen, das nicht gehalten wird“, eine Verheißung, die nicht erfüllt wird.

Muß also unsere Sehnsucht nach Liebe ins Leere gehen? Bei wie vielen Menschen ist in Sachen Liebe Enttäuschung, Resignation und Scheitern das letzte Wort? Aber trotz allem gibt es wahre Liebe zwischen Menschen. Es gibt jene Liebe, wo einer die Grenzen, die Brüchigkeit und das Nicht-entsprechen-Können des anderen sieht, aber die bewußte und gewußte Fragwürdigkeit des andern überspringt und trotzdem liebt. Warum? Weil er den anderen in einem größeren Licht, in einer größeren

Liebe, letztlich in der Liebe Gottes sieht.

Wie oft und wie schnell sind wir mit Menschen am Ende, wenn wir ihre Brüchigkeit und ihre Grenzen erfahren! Aber gerade diese Erfahrung kann und sollte uns darauf hinweisen, daß es eine größere Liebe gibt, die der begrenzten Liebe zwischen den Menschen Grund, Halt und letzte Motivation gibt: Die Liebe von Gott her und die Liebe zu Gott. Weil Gott jeden Menschen hebt, bedingungslos, unrücknehmbar, weil Gott jeden von uns auch in und trotz seiner Grenzen und Sünden annimmt, darum können auch wir einander annehmen und bejahenr

So gesehen ist unsere Beziehung, unsere Liebe zu Gott Bedingung dafür, daß wir andere Menschen lieben können, auch dann, wenn uns ihre Grenzen offenbar werden. Gott, die Liebe zu Gott, ist die Bedingung dafür, daß wir in seiner Liebe auch den mit ihm verbundenen Nächsten heben können. Nur im Lichte Gottes, s

im Lichte seiner Liebe und befähigt durch seine Liebe können wir auch den Nächsten wirklich heben. Aber mehr noch: Gerade in Anbe-

tracht der Grenzen zwischenmenschlicher Liebe geht uns unsere Sehnsucht und unser geheimes Verlangen nach grenzenloser Liebe, nach vorbehaltlosem Bejahtwerden und Bejahen, nach Anerkanntwerden und Anerkennen auf. In uns allen ist eine Sehnsucht nach Liebe, die letztlich nur von dem erfüllt werden kann, der selbst ohne Grenzen ist: von Gott. „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Gott“, sagt Augustinus. Das gilt auch hinsichtlich unserer Sehnsucht nach Liebe: Gestillt wird sie erst von ihm.

Es gibt keine Liebe zu Gott an der Liebe zum Nächsten vorbei. Das ist sehr deutlich im ersten Johannesbrief zum Ausdruck gebracht, wo es heißt: „Wenn jemand sagt, ich hebe Gott, und seinen Bruder haßt, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht hebt, den er gesehen hat, kann Gott nicht heben, den er nicht gesehen hat. Wir haben dieses Gebot von ihm: Wer Gott hebt, hebt auch seinen Bruder“ (1 Jo 4,7ff). Die Liebe zum Nächsten ist somit der Weg und die konkrete Gestalt unserer Liebe zu Gott. Ohne Liebe zum Nächsten wird unsere Liebe zu Gott zur Lüge.

Damit haben wir nun gesehen, daß Gottes- und Nächstenliebe nicht zwei verschiedene Verhaltensweisen nebeneinander sind und auch daß Gottesliebe nicht nur ein leeres Wort, eine Chiffre ist, die das Gleiche sagt wie: Liebe zum Nächsten. Nein: Die Liebe zu Gott ist die Bedingung und Voraussetzung dafür, daß wir, trotz aller Grenzerfahrung, den Nächsten lieben können im Licht und in der Befähigung der Liebe Gottes. Und die Liebe zum Nächsten ist der vernehmlichste Weg und die vernehmlichste Form, in der wir Gott heben können.

Ufrd darum: wenn wir oft darüber klagen, daß unsere Liebe zu Gott so schwach ist, ja vielleicht gar nicht wirksam und wirklich ist, müssen wir uns fragen: Lieben wir denn den Nächsten, den Mitmenschen? Es gibt keine Gottesliebe ohne Nächstenliebe.

Wenn wir darüber klagen, daß unsere Liebe zum andern so hilflos, so klein, so selten ist, dann steht sich die Frage: Versuche ich, in Beziehung zu Gott zu leben und von dieser Beziehung her auch den Nächsten zu sehen und ihn zu heben? Es gibt letztlich keine glückende Nächstenhebe ohne Gottesliebe. Beide gehören zusammen, wie zwei Seiten einer einzigen Münze. Und nur im Bemühen um beides kann Gottes- und Nächstenliebe gelingen. Denn es gibt nicht zwei Lieben, sondern eine einzige, die sich in den Gestalten von Gottes-und Nächstenliebe zu einem Ganzen zusammenschließt. Gott selbst ist diese eine Liebe.

(Aus der Predigt beim Semestereröffnungsgottesdienst 1978)

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