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Mut zum Entschluß
„Keine Regierung - wie immer zusammengesetzt - kann Wunder wirken. Es werden harte Zeiten" (FURCHE 47/1986).
Realitätssinn kann heute wie vor vier Jahren davor bewahren, „Wun- derknaben" oder „Wunderfrauen" auf den Leim zu gehen. Ein Schar- latan, wer vorgibt, für alles und ge- gen jedes ein Patentrezept zur Hand zu haben. Wer weismachen will, daß Politik in unserer pluralisti- schen Gesellschaft überhaupt ohne Interessenausgleich möglich wäre.
Viel ist in den zurückliegenden vier Jahren geschehen, auch an Fehlern. Aber man muß schon an chronischer politischer Merk- schwäche leiden, um die Überga- bebilanz der rot-blauen Koalition verdrängen zu können. Dem Ver- gleich mit der Legislaturperiode bis 1986 hält die zurückliegende in jedem Fall stand.
Sanierung des Budgets und der Verstaatlichten, Steuerreform, Pri- vatisierung, Europapolitik und Umweltschutz-Gesetzgebung: Da ist etwas weitergegangen, sogar relativ erfolgreich. Umgekehrt wurden etwa bei der Pen- sionsreform und bei der Spitals- finanzierung Jahre vertrödelt, wurde die Wahlrechtsreform ver- schlampt.
Die „unendliche Geschichte" der Skandale und Affären - Lucona, Noricum - hat sich wie ein roter Faden aus der Vergangenheit in die Legislaturperiode verwoben und mit neuen Auswüchsen - Steuer- hinterziehung, Rechberger, SP- Pensionistenverband, Volksfürsor- ge sind nur beispielhafte Stich Wor- te - Fortsetzung gefunden.
Allerdings: Es gehört auch zur Positivbilanz der zurückliegenden Jahre, daß mit dem Wechsel im Justizressort vom Busenfreund der „Unbestechlichen" zu Egmont Foregger verlorenes Vertrauen in Recht und Rechtssprechung gut- gemacht werden konnte. Daß end- lich auch parlamentarische Unter- suchungsausschüsse - noch dazu öffentlich - ganze Arbeit geleistet haben.
Die starke und bissige, manch- mal auch verbissene Opposition hat den Regierungsparteien durchaus gut getan. Zeitweise wurde die Koalition durch ihre - auch (partei)internen - Positionskämpfe sogar zum besten Wahlhelfer für die Opposition.
Aus vielen kleinen Mosaikstei- nen zusammengesetzt ist so bei nicht wenigen Österreichern das Bild entstanden, daß hier eine irgendwie verrottete Politikerkaste am Werk sein müsse. Und viele haben sich angewidert von der Politik abge- wendet.
Da gibt es nur Verlierer, Mit- schuldige. Nicht- und Weiß-Wäh- ler haben von allen die Nase voll, auch von Freiheitlichen und Grü- nen.
Nicht nur Umfragen, auch per- sönliche Gespräche bestätigen es: Die Zahl der Unentschlossenen, der Ratlosen vor diesem 7. Oktober, ist gewaltig. Die lauen Wahlkampag- nen haben das Desinteresse eher größer als kleiner werden lassen.
Was also raten? Aus demokra- tischer Überzeugung: Wählen! Und auch wenn es nur nach Bin- senweisheit klingt: Persönlichkeit, Partei, Programm und politische Praxis sind durchaus Kriterien, an denen sich eine Wahlentscheidung auch in diesen Tagen noch heraus- bilden kann. Hundertprozentige Übereinstimmung - wo gibt es die? Schon eher werden in der Realität Zustimmung und Ablehnung abge- wogen werden müssen: zu Parteien und deren Listen für die Volksver- tretung. Es geht um das Kräftever- hältnis im Nationalrat. Und dem wird kein potentieller oder auch selbsternannter Kanzlerkandidat, wenn er an einer Regierungsbil- dung beteiligt ist, danach angehö- ren.
Natürlich wird sich bei dieser Wahl auch die Protesthaltung Luft machen. Und darum buhlt auch politisches Sektierertum, manch fragwürdiger Polit-Aktionist mit Geltungstrieb ist dabei, chancenlos vom Wahlrecht her, mehr als ein Zählergebnis zu erreichen. Aber diese Stimmen werden, könnten in der Endabrechnung anderen Par- teien fehlen. Darin liegt ihre ei- gentliche Bedeutung: in der Zer- splitterung. Und dann ist die Frage, ob die jeweilige Kandidatur über- haupt den vorgegebenen Interessen dient, berechtigt. Der Verband der Sozialversicherten etwa meint es mit seinem Einsatz für die Pensio- nisten sicher gut. Aber ob der Weg der gesellschaftlichen Fraktionie- rung ein guter ist, muß in Frage gestellt werden. Was, wenn dem- nächst eine Partei der Jungen dage- gen kandidiert, die die Belastung aus dem Generationenvertrag ab- schütteln möchte?
Die Qual dieser Wahl kann kei- nem abgenommen werden. Chri- sten werden da noch andere Maß- stäbe anzulegen haben: Schutz des Lebens, die Familienpolitik, sozia- le Gerechtigkeit und solidarische Ausländerpolitik können nicht ausgeblendet werden. Aber ohne Engführung im Denken, die gesell- schaftlichen Pluralismus leugnet. Um zum Streitthema der letzten Zeit den polnischen Ministerpräsi- denten Tadeusz Mazowiecki, des- sen Katholizität wohl auch hierzu- lande niemand in Zweifel ziehen wird, zu zitieren: Es ist durchaus nicht sinnvoll und zulässig, kirch- liche oder gar dogmatische Lehren einfach ins politisch-gesellschaft- liche Leben übersetzen zu wollen, hat er - genau vor Jahresfrist vom „Spiegel" auf die Abtreibungsfrage angesprochen - gesagt. Weil er der Meinung ist, „daß sowohl der Papst wie auch die gegenwärtige Kirchen- lehre solche Probleme vor allem als Erziehungsfragen der Gesellschaft verstehen".
Man kann an der Art und Weise des politischen Grabenkrieges des- interessiert sein. Sich aber deshalb dem wahlarithmetischen Zufall und anderen ausliefern? So tun, als gin- ge mich das nichts an? Als ginge es um nichts?
Die nächsten Jahre werden ent- scheiden, welche Position diese Republik im neuen Europa ein- nehmen wird, sind entscheidend für das Selbstverständnis und den Stel- lenwert unserer Neutralität. Eine europäische Völkerwanderung kommt auf uns zu. Große Reform- brocken warten, die Konjunktur- aussichten verfinstern sich. Die Sozialpartnerschaft steht ebenso vor einer Bewährungsprobe wie vor einer unaufschiebbaren Reform ihrer Träger.
Flotte Sprüche sind noch keine Lösung. Nicht ein Minimum, son- dern ein Maximum an Übereinstim- mung ist notwendig, damit diese Republik ihre Chancen nicht ver- spielt. Ein rot-weiß-roter Konsens. Das gilt für die Wahlentscheidung ihrer Bürger ebenso wie für die nachfolgende Regierungsbildung.
Jede und jeder ist mitverant- wortlich. Da kann sich auch keiner ohne Stimm- oder mit Denkzettel fortstehlen.
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