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Manchmal doch eine „Verfassungs-Koalition“

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Mit 93 Mandaten sind, das ist bekannt, im Parlament die gewünschten „klaren Verhältnisse“ gegeben. Diese magische Zahl gibt dem „Roi absolu“ (endlich) die Möglichkeit zur Regierung nach eigenen Vorstellungen. Und regieren ist der sinnvolle Umgang mit der Macht, anders gewendet: die Macht, Gesetze zu machen. Die nächsten vier Jahre, (und um das festzustellen, muß man kein Prophet sein), werden im Spannungsverhältnis zwischen Erfüllung eines sogenannten Wählerauftrages und der Verwirklichung gesellschaftspolitischer Leitbilder stehen, die — Verbalinterpretation des Bundeskanzlers hin oder her — sozialistische Vorzeichen haben werden.

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Mit 93 Mandaten sind, das ist bekannt, im Parlament die gewünschten „klaren Verhältnisse“ gegeben. Diese magische Zahl gibt dem „Roi absolu“ (endlich) die Möglichkeit zur Regierung nach eigenen Vorstellungen. Und regieren ist der sinnvolle Umgang mit der Macht, anders gewendet: die Macht, Gesetze zu machen. Die nächsten vier Jahre, (und um das festzustellen, muß man kein Prophet sein), werden im Spannungsverhältnis zwischen Erfüllung eines sogenannten Wählerauftrages und der Verwirklichung gesellschaftspolitischer Leitbilder stehen, die — Verbalinterpretation des Bundeskanzlers hin oder her — sozialistische Vorzeichen haben werden.

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Die SPÖ kann nun, nachdem ihr mehr als die Hälfte aller Wähler attestierten, daß ihr historischer Minderwertigkeitskomplex unbegründet ist, ihre Vorstellungen verwirklichen. Sie kann nun Schwerpunkte setzen, von denen sie jahrzehntelang träumte; Träume des Juniorpartners in den Großen Koalitionen, Vorschläge, die zur Zeit der ÖVP-Alleinregierung formuliert wurden und heiße Eisen, die die Minderheitsregierung anpacken wollte, aber nicht konnte. Aber hier bremst Kreisky seine Parteigänger, die meinen, der 10. Oktober habe die Zukunft Gegenwart werden lassen: „Die SPÖ hat das Vertrauen der Mehrheit für die Verwirklichung ihres Regierungsprogramms erhalten. Sie wird dieses nun erfüllen. Befürchtungen, daß die SPÖ nun etwa machen werde, was sie will, sind unbegründet.“ Was aber steht alles im Regierungsprogramm — und was kann wirklich so ohne weiteres erfüllt werden?

Es ist nicht nur staatsmännischer Weitblick, der Kreisly schon in der Wahlnacht und seither immer wieder betonen ließ, er werde die parlamentarische Zusammenarbeit mit den Oppositionsparteien suchen, für Gespräche offen sein. Es ist das Wissen um die von der Verfassung geforderte Zweidrittelmehrheit für Verfassungsgesetze; überspitzt formuliert: um die in der Verfassung institutionalisierte „Große Koalition“. Diese gegenüber einfachen Gesetzen erhöhten Präsenz- und Konsensquoren geben zwar dem österreichischen Verfassungsrecht eine gewisse Kontinuität, führten aber zu Versteinerungen, einer unübersichtlichen Fülle von zum Teil aus tagespolitischem Kuhhandel entstandenen Gesetzen mit Verfassungsrang, zu politischem Do-ut-des und Junktims.

Die Marktordnungsgesetze sind etwa ein solches „Schacherobjekt“. Eine eigentümliche juristische Konstruktion macht sie seit jeher zum Faustpfand. Auf die Zweidrittelmehrheit werden bedenkenlos Wechsel gezogen. Bereits zur Zeit der Alleinregierung Klaus’ wurde als Gegengeschäft für die Stimmen der Sozialisten, die eine Verlängerung (um ein Jahr) der Marktordnungsgesetze ermöglichten, im neuen ÖIAG-Gesetz der alte Proporz institutionalisiert. Jetzt geht das Spiel mit vertauschten Rollen weiter. Mit der Ankündigung, die geringfügig retuschierten landwirtschaftlichen Marktordnungsgesetze vorerst auf nur ein Jahr zu verlängern, hat Kreisky eine starke Verhandlungsbasis. Die ÖVP kann nun zum Mitziehen in anderen wichtigen Angelegenheiten gewonnen werden. Gewollte Provisionen werden instrumentėli eingesetzt.

„Demokratisierung“

Aus dem Wust von Vorschlägen, Arbeitspapieren, Diskussionsbasen und inhaltsschweren Nebensätzen, die der Kanzler bei jeder sich bietenden Gelegenheit jonglierend durch die Gedanken wirbelt, den harten Kern zukünftiger Regierungsarbeit zu destillieren, ist nicht eben einfach. Scheint doch das System Methode zu haben. Man weiß nie, welche Gesetzesvorschläge spruchreif, welche im Begutachtungsstadium sind und welche Makulatur präsentieren.

Auch viele Parlamentarier, die gewohnt sind, gleichzeitig mit ihrem Klubobmann im Nationalrat aufzustehen und so Gesetze zu beschließen, sind wie die Artisten in der Zirkuskuppel — ratlos.

So kommt man zu einer umfänglichen Liste, die, ohne Prioritäten zu enthalten, Problemkreise beinhaltet, deren Lösung Kreisky in dieser 23. Legislaturperiode betreiben wird; und die überdies in einigen hauptsächlichen Punkten eine Änderung des geltenden Verfassungsrechtes postuliert.

Unter dem Sammelbegriff „Demokratisierung“, der methodisch nie scharf von der Demokratiereform abgegrenzt wurde und unaufhörlich system-immanente Reform produziert, daher aber nicht systemtranszendenter Reformen bedarf, harrt sicher der Ombudsman, korrekt: die Volksanwaltschaft, der Verwirklichung. Diese Forderung ist alt: Im „Vorschlag für ein Justizprogramm 1970 bis 1974“ wurde „die verfassungsmäßige Institutionalisierung der Einrichtung eines Anwaltes des öffentlichen Rechtes postuliert.

In der Regierungserklärung „Für ein modernes Österreich“ vom 27. April 1970 regte der Bundeskanzler an: „In Weiterentwicklung des in der Verfassung verankerten Petitionsrechtes eine Anwaltschaft öffentlichen Rechts zu schaffen, wobei der Bundesregierung die Schaffung eines Kollegialorgans, in dem jede im Parlament vertretene Partei repräsentiert sein sollte, vorschwebt.“ Nun liegt ein mehrmals überarbeiteter Entwurf zur parlamentarischen Behandlung und zur Verabschiedung durch die beiden Großparteien vor. Ob die ÖVP, die statt einer Volksanwaltschaft den Ausbau bestehender Rechtsschutzeinrichtungen fordert, die ominöse Zweidrittelmehrheit ermöglicht, um solcherart den sprichwörtlichen kleinen Mann, aber auch den Querulanten bewußtseinsgestärkt in den Kampf mit den Behörden zu schicken, ist heute noch unklar.

Sicher werden hingegen noch andere demokratie-reformerische Vorhaben in dieser Legislaturperiode nicht in Angriff genommen werden, sofern sie Verfassungsrang haben.

Um die Formel „Demokratiereform ist Parlamentsreform“, die die SPÖ in Oppositionszeiten vehement vertrat, ist es hingegen still geworden. Die ÖVP wäre gut beraten — eine Reform der Geschäftsordnung und der Ausbau der Fragestunde schlägt vor allem für die Opposition zu Buche —, die Parlamentsreform, „die sich in gleicher Weise freihält von bloßer ,Institutionen- kosmetik’ ebenso wie von .Institu- tionenhypertrophie“ “, wie es Doktor Broda formulierte, neuerlich in Diskussion zu ziehen und die nunmehrige Regierung zur Verwirklichung zu drängen.

Das Strafrecht

Die Große Strafrechtsreform, zweifellos Teil der Prioritätenliste der monochromen sozialistischen Regierung, hat, so heißt es allgemein, Broda „in seiner Lade“ und wird sie sicher sehr bald vorlegen. Obwohl dieses Reformwerk einfachgesetzlich durchzusetzen ist, die SPÖ also ihre Vorstellungen ohne weiteres in einer Kampfabstimmung durch drücken könnte, wird man voraussichtlich das „Einvernehmen mit den anderen Parteien pflegen“, sich um eine breite parlamentarische Basis bemühen. Denn diese Strafrechtsänderungsgesetze enthalten unter anderem die Änderung des Sexualstrafrechts und den heißen Paragraphen 144, die Abtreibung; das sind sehr wohl gesellschaftspolitisch relevante Angelegenheiten, über deren Behandlung und Lösung die Meinungsverschiedenheiten aber quer durch die Parteien gehen. Es ist als sicher anzunehmen —, wie es auch bei Teilen der kleinen Strafrechtsreform geschehen ist —, daß in diesen Fragen der Klubzwang aufgehoben und so ein Konsensus gefunden wird, der mit dem Gewissen des dafür oder dagegen stimmenden Parlamentariers vereinbar erscheint. Die Liberalisierung der Pornographiegesetzgebung, deren Problematik vor einem halben Jahr eine Enquete gewidmet war, wird sich nicht nur an der Stellungnahme der Kirche zu orientieren haben, sondern auch die Meinung altgedienter Funktionäre und sozialistischer Frauen berücksichtigen müssen. „Schmutzkübelkapitalismus“, der feiste Schmierfinke noch reicher werden läßt, kann einer sozialistischen Regierung nicht so leicht die Zustimmung abringen.

Wenn man als Prämisse gelten läßt, daß von Gesetzen ableitbar ist, welche Politik eine Regierung betreiben wird, dann ist diese Regierung Kreisky II eine sozialistische Regierung. Zumindest, was das zur Conditio sine qua non stilisierte, zur echten Priorität gestempelte Assa- nierungs- und Bodenbeschaffungsge- setz betrifft. Kreisky: „Weil die Österreicher sehr bald in eine Situation kommen könnten, in der es zwar genug Wohnungen gibt, die sie sich aber nicht leisten können. Und das wäre erst recht die Quelle sozialer Unzufriedenheit.“

Es geht um Häuser. Vorerst um solche zum Wohnen. Die Tendenz ist klar: „Besondere Probleme ergeben sich dadurch“, so die Erläuternden Bemerkungen zu dem Gesetzesentwurf, „daß der Grund und Boden nicht ausreichend vorhanden ist oder beliebig vermehrt werden kann. Er wird in bestimmter Lage und mit bestimmter Verwendungsmöglichkeit zu einem knappen Wirtschaftsgut, das dem Eigentümer oft eine monopolartige Stellung gegenüber den Bedarfsträgern einräumt. Die Lösung dieses Problems kann daher nicht allein dem Marktmechanismus überlassen bleiben.“

Derartiges, wenn auch nicht so klar, kündigte sich bereits in der Regierungserklärung 1970 an: „Es werden daher durch moderne Rechtsvorschriften die Voraussetzungen für eine Bodenordnung zu schaffen sein, die sowohl die geordnete Entwicklung der Wohn- und Siedlungsgebiete als auch die notwendige Erneuerung unserer Städte garantieren. Bei der Gestaltung dieser Vorschriften wird ein Ausgleich zwischen den privaten Interessen an Grund und Boden und dem Anliegen der Gemeinschaft herzustellen sein.“

Niemand wird bestreiten wollen, daß der Ausübung des Eigentumsrechtes soziale Schranken gesetzt sind, daß eine differenzierte Gesellschaft das Individualrecht „Eigentum“ limitieren muß. Der Begriff „sozial gebundenes Eigentum“ ist eine Realität. Nur müssen städtebauliche Mißstände, die die Basis dafür darstellen, daß ein Stadtteil zum Assanierungsgebiet erklärt wird, enger, konkreter definiert werden, als es in dem Entwurf geschehen ist — um nur ein Beispiel aus einer Flut zu nennen. Da dieses an sich einfache Gesetz eine Verfassungsbestimmung enthält, wird es zum Verhandlungsobjekt der „heimlichen großen Koalition“ werden. Oder vielleicht zum Casus belli für die Opposition, sofern das laufende Begutachtungsverfahren keine Retusphen ergibt.

Abseits derartiger gesellschaftspolitischer Weichenstellungen wurde eine Novelle zur Verfassung virulent, die im Interesse der Bundesländer, aller Länder, liegt. Es ist dies eine Änderung der Kompetenzartikel der verfassungsrechtlich determinierten

Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern. Ein Wunsch, den die Länder als Forderungsprogramm der Bundesregierung vorgelegt haben und dessen Antwort, die sogenannte Bundesverfassungsgesetznovelle 1971, soeben die Begutachtungsfrist durchlaufen hat.

Ihr Ziel: „Im Sinne einer klaren Betonung des bundesstaatlichen Prinzips zu einer wirksamen Stärkung der Rechte der Länder zu gelangen.“ Erfreulich dieses Äquivalent für die sukzessive verlorengegangenen Länderkompetenzen, um so mehr, als ja alle Pläne einer Bundesratreform, die diesen zu einem echten föderalistischen Instrument machen wollten, offenbar vergessen sind und nicht im Programm der Regierung stehen.

Das Kompetenzgesetz, die legisti- sche Basis für die innere Gliederung der Ministerien einerseits, die Aufgabenteilung der verschiedenen Ressorts anderseits, wird derzeit überarbeitet und soll, versehen mit einigen Korrekturen, sehr bald dem Parlament vorgelegt werden. Es wird Kreisky das langersehnte Superwirtschaftsministerium bringen und die in der Regierungserklärung 1970 angekündigten „wirksamen Maßnahmen zur Kompetenzentflechtung“ enthalten.

Nicht so einfach hingegen stellt sich die von Unterrrichtsminister Gratz begonnene Schulreform dar, „die auf der Basis des sozialistischen Schulprogramms durchgeführt werden wird“. Die einzigartige juristische Konstruktion: Bundesgesetze in Angelegenheiten der Schulorganisation bedürfen, obwohl einfache Gesetze, der Quoren von Verfassungs-

gesetzen, binden ihm hier die Hände. Allein das Schulunterrichtsgesetz, das demnächst zu erwarten ist und den Innenaufbau der Schulen in Richtung auf eine „Demokratisierung“ reformiert, fällt nach Meinung von Verfassungsexperten nicht unter diese Klausel.

Dienstpostenausschreibung

Ein Gesetzentwurf, der die öffentliche Dienstpostenausschreibung „im Sinne einer größeren Transparenz bei der Besetzung bestimmter Dienstposten (insbesondere Dienststellen- und Behördenleiter) sowie bei der Begründung neuer • Dienstverhältnisse“ regelt, wird schon bald praktikabel. Hier genügt die einfache Mehrheit, die Kreisky in diesem Fall sicher ausschöpfen wird.

Insgesamt: Die Sterne stehen günstig für Dr. Kreisky. Er wird die 93 Mandate — eiserne Gesundheit und Disziplin seiner Mannen als Voraussetzung für diese Chiffre — kompromißlos in die Waagschale werfen können und er wird mit seiner Mehrheit auch kräftig regieren.

Bei essentiellen Gesetzen, die der sozialistischen Regierung viel bedeuten, fordert die Verfassung aber dennoch mehr als die hauchdünne einfache Mehrheit. Und die Wähler — mehr als 50 Prozent der Stimmberechtigten — knüpfen an diese, durch die Zahl 93 symbolisierte Mehrheit ja die Erfüllung eines Wahlprogramms.

Das aber ermöglicht der Opposition doch eine gewisse Mitwirkungsund Kontrollfunktion.

In allen Fragen mit Verfassungsrang, in allen Fragen, wo eine kompakte Mehrheit unerläßlich scheint, wie vor allem im Bereich des Strafrechts, hat und kann die Opposition mitwirken. Opposition ist in diesem Falle aber nur die ÖVP — denn die FPÖ kann Kreisky in solchen Fällen keine Zweidrittelmehrheit bringen.

Man darf daran erinnern, daß zwischen 1966 und 1970 umgekehrte Vorzeichen eine ähnliche Situation wiederholt geschaffen haben. Damals gelang es der SPÖ, in einer Reihe von Fällen die regierende Volkspartei unter Sach- und Zeitdruck zu setzen. Damit aber erhellt die Chance der Volkspartei. Noch ist sie nicht aus dem Spiel, noch steht ihr das Forum am Dr.-Karl-Renner-Ring offen, noch braucht der Bundeskanzler und sein Kabinett die große Opposition. Noch funktioniert die Sozialpartnerschaft, und niemand hat ein Interesse, sie zu zerstören. Aber die ÖVP wird der Chance (und auch ein wenig der Versuchung) nur entsprechen können, wenn sie geschlossen hinter ihren Spitzenfunktionären steht.

Eine geschlossene Regierung mit funktionierendem Klubzwang — und etwa eine geteilte große Opposition: das würde nämlich nicht nur der Untergang der Volkspartei, sondern auch eine schwere, tiefgreifende Krise der Demokratie in Österreich hervorrufen. Niemand soll den Bogen überspannen. Das bleibt und ist die Lehre der Ausgangslage, die den Amtsantritt der Regierung Kreisky Nr. II begleitet.

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