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Die Bilanz der erfolgreichen Widersprüche

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Am 20. April war es soweit. Der mit der Bildung einer Regierung der Großen Koalition beauftragt gewesene SPÖ-Vorsitzende Dr. Kreisky berichtete dem Bundespräsidenten über das Scheitern der Verhandlungen und legte seinen Auftrag zurück. „Nach dieser Unterredung bestellte das Staatsoberhaupt Dr. Withalm telephonisch zu sich und ließ sich über den Abbruch der Verhandlungen vom Standpunkt der ÖVP berichten. Der Bundespräsident unternahm keinen Vermittlungsversuch und teilte Withalm mit, daß er Kreisky noch Montag mit der Bildung einer Minderheitsregierung beauftragen werde.“ (AZ)

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Am 20. April war es soweit. Der mit der Bildung einer Regierung der Großen Koalition beauftragt gewesene SPÖ-Vorsitzende Dr. Kreisky berichtete dem Bundespräsidenten über das Scheitern der Verhandlungen und legte seinen Auftrag zurück. „Nach dieser Unterredung bestellte das Staatsoberhaupt Dr. Withalm telephonisch zu sich und ließ sich über den Abbruch der Verhandlungen vom Standpunkt der ÖVP berichten. Der Bundespräsident unternahm keinen Vermittlungsversuch und teilte Withalm mit, daß er Kreisky noch Montag mit der Bildung einer Minderheitsregierung beauftragen werde.“ (AZ)

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Ein Experiment hatte damit begonnen: ein Experiment, das die österreichische Demokratie bisher nicht kannte. Die bisherigen Bundespräsidenten waren unbedingte und von Zeit zu Zeit sehr aktive Förderer der großen Koalition gewesen.

Alle, auch die Sozialisten selbst waren überrascht.

Kreisky galt noch kurze Zeit früher als überzeugter Anhänger der großen Koalition. Und hier fällt dem Beobachter der Vorgänge der erste Widerspruch auf. Denn der Bundeskanzler dieser Minderheitsregierung muß oder müßte eigentlich nach wie vor ein heimlicher Anhänger der großen Koalition oder zumindest von Koalitionen — und damit von regierungsfähigen Regierungen sein. Sonst wäre es nämlich unbegreiflich, auf Grund welcher anderer Überlegung er ein halbes Jahr später mit einer sehr knappen Mehrheit, mit Hilfe der FPÖ, jene Novellierung der Nationalratswahlordnung durchgesetzt hat, die das in Österreich nach wie vor geltende Verhältniswahlrecht so weit ausbaut, daß von nun an die absolute und damit erst regierungsfähige Mehrheit einer Partei nahezu unmöglich wird. Diese „Wahlrechtsreform“ ist und bleibt ein stillschweigendes Bekenntnis zur Koalition! Wieder einige Monate später, in den letzten Wochen, legte sich aber Bundeskanzler Kreisky in der Öffentlichkeit wiederholt fast so entschieden gegen die Bildung künftiger Koalitionen für seine Person fest, wie einst der frühere Bundeskanzler Klaus.

Und das ist nicht weniger seltsam als die neuentdeckte Liebe von ÖVP- Politikern, die früher Anhänger vcm Mehrheitsregierungen nach englischem Muster waren, für Koalitions-, ja Konzentrationsregierungen, und als die seinerzeitige Weigerung des Bundespräsidenten, jene staatspolitisch bedeutsame Vermittlerrolle bei der Regierungsbildung zu übernehmen, die ihm gerade das Verhältniswahlsystem, für das die Sozialisten und insbesondere auch die sozialistischen Bundespräsidenten immer eingetreten waren, auch an diesem 20. April 1970 nahegelegt hätte.

Punkte gewonnen — und verloren

Dies blieb aber in dem seither vergangenen Jahr der Regierung Kreisky nicht der einzige Widerspruch. Die Sozialisten hatten sich, so hieß es, für eine Regierungstätigkeit besser vorbereitet als jemals eine Oppositionspartei zuvor. Umfangreiche Programme für alle Ressorts, erarbeitet von hunderten von Experten, diskutiert und beschlossen in den Parteigremien, lagen vor. Die Regierungsbildung gelang Bundeskanzler Kreisky nicht schlecht, trotz der beiden Betriebsunfälle mit dem Landwirtschafts- und dem Verteidigungsminister, die ausgewechselt werden mußten. Aber Verteidigungsminister Freihsler war doch für dieses Amt, abgesehen davon, daß er als General in emer Demokratie besser nicht ip die. Regierung hätte gehen sollen, bestens qualifiziert. Auch andere Minister dieser Regierung verfügen über ausgezeichnete Führungsqualitäten, teils als Fachmann, wie Androseh, teils als Politiker mit großer Zukunft, wie Gratz. Kreisky hat also mit seiner Regierungsbildung bestimmt schon Punkte gewonnen.

Verloren hat er allerdings einige dieser Gutpunkte gleich wieder mit der Art, wie er mit dieser Regierung und mit dem Parlament, wo er ja keine Mehrheit hatte, zu arbeiten begann. „Programm großer Reformen“, stand groß am 22. April in der „Arbeiter-Zeitung“. „Keine Propaganda“ lautete in derselben Nummer ein Zwischentitel. Und in der Regierungserklärung vom 27. April heiß es dann: „Die politische Situation… scheint mir eine der zentralen Rolle des Parlaments in der Demokratie sehr zuträgliche zu sein.“ Und er zitierte den großen französi schen Radikalsozialisten Eduard Herriot, der einmal sagte, die Demokratie könne nur gefestigt werden, „indem man sie ununterbrochen in Bewegung hält“.

Dieser Satz scheint wahrlich einer der Leitsprüche des österreichischen Bundeskanzlers zu sein. Ein anderer, den er unlängst wieder, anläßlich des Wiener Vortrags des amerikanischen Professors Galbraith, zitierte, stammt vom tschechischen Staatsmann Masaryk: „Demokratie 1st Diskussion.“ Der Widerspruch folgte diesen an sich beherzigenswerten Maximen auf dem Fuß: Das Parlament wurde in diesem Jahr keineswegs in der Weise aufgewertet, wie dies Doktor Kreisky angekündigt hatte. Denn die Mehrheit, die das Budget 1971 beschloß, entstand nur rein räumlich im Parlament, in Wirklichkeit aber in einer Geheimverhandlung zwischen SPÖ und FPÖ, wobei die gewählten Vertreter des Volkes mit den Journalisten auf das öffnen der Polstertür warten mußten.

Damals entstand dann jene „Budget- Koalition“ zwischen SPÖ und FPÖ, die infolge ihrer Undurchsichtigkeit •das Ansehen des Parlaments noch mehr beeinträchtigte. War schon die Existenz der Minderheitsregierung eine Abwertung demokratischer Wahlen und des parlamentarischen Systems überhaupt, geriet durch diese stille und gelegentliche Koalition die Front zwischen Regierung und Opposition vollends in Unordnung. Wer sollte sich da noch auskennen? Währenddessen aber sprach der Bundeskanzler ununterbrochen von der notwendigen „Transparenz“. Demokratie ist Diskussion: Uber vieles wurde in diesem Jahr diskutiert. Aber eine der grundlegenden Fragen in der Demokratie, nämlich eine Wahlrechtsänderung, wurde ohne öff entliche Diskussion mit knapper Mehrheit und im Schnellverfahren verabschiedet. Versprochen wurde eine „Ausgestaltung des Persönlichkeitswahlrechtes“. In Wirklichkeit wurden, infolge der neuen Riesenwahlkreise, Wähler wie Kandidaten noch weiter abgewertet und einander entfremdet.

Es wäre vielleicht nicht ganz gerecht, sich das Regierungsprogramm vom 27. April 1970 Punkt für Punkt vorzunehmen, um zu beweisen, daß ein Großteil der versprochenen Reformen nicht verwirklicht, ja nicht einmal begonnen wurde.

Das war freilich für manche der unmittelbar Interessierten eine bittere Erfahrung. Die Regierungserklärung hat zum Beispiel als Aufgabe einer modernen Agrarpolitik die „Verbesserung der Einkommenslage der in der Land- und Forstwirtschaft Berufstätigen“ bezeichnet. In Wirklichkeit hat sich die Einkommenslage der Bauern im abgelaufenen Jahr weiter verschlechtert, und, da Kreisky angesichts der Traktorendemonstration der Bauern „hart“ geblieben ist und „keinen Groschen“ versprach, wird sie sich in absehbarer Zeit auch kaum verbessern. Hinsichtlich der Besteuerung der Politikerbezüge versprach die Regierung, daß sie nach Einlangen des Gutachtens der von ihr einzuberufenden Kommission „sodann die entsprechenden Vorschläge den gesetzgebenden Körperschaften“ zulei- iten werde.’ Das hätte schon vor Monaten geschehen können, aber es geschah nichts — nachdem der SPÖ- Klub in diesem Punkt Kreisky die Gefolgschaft verweigert hatte.

Die Bundesheerreform ist in diesem Jahr, abgesehen vielleicht von der aufsehenerregenden Neuregelung der Länge des Haarschnittes und der Bärte, faktisch nicht weiter gekommen. Die vielkiUisierte „Untätigkeit“ der ÖVP-Regierung in der Wirtschaftspolitik wurde fortgesetzt. Von den Strukturreformen in der verstaatlichten Industrie hört man nichts.

Kleine und nicht immer die wichtigsten Reformen sollten hingegen vorläufig die Große Rechtsreform ersetzen. Kleine Verbesserungen in der Sozialpolitik — aber kein großes Reformkonzept, obwohl hier, etwa auf dem Gebiet der Krankenversicherung, eine dringende Reform im Interesse der Bevölkerung vonnöten wäre.

Zu echten gesellschafts-, rechts- und bildungspolitischen Weichenstellungen (Betriebsrätegesetznovelle, „Ombudsman“, Hochschulreform) braucht diese Regierung eine Mehrheit — und sie bekommt sie vorläufig kaum. Das verhindert so manche Weichenstellung in dem von ihr angestrebten Sinne, aber es ist das gute Recht der mehrheitlichen Opposition, dort, wo es ihr notwendig erscheint, nein zu sagen. Der Mißtrauensantrag der Opposition ist freilich in diesem Jahr ausgeblieben, und das ist auch ein seltsamer Widerspruch — nicht der Regierung, sondern der Opposition.

Bewegung — wohin?

Bundeskanzler Kreisky hat mit der Begabung des wirklichen Politikers die Demokratie in Österreich ein Jahr lang „in Bewegung“ gehalten. Unermüdlich neue Ideen und mitunter auch neue Widersprüche zur Diskussion stellend, sorgte er mit viel schöpferischer Phantasie, Eloquenz und auch mit Energie dafür, daß die Diskussion immer neuen Stoff erhielt.

Das war verdienstvoll, gewiß, und insoferne kann man auch von einem großen persönlichen Erfolg des Bundeskanzlers Dr. Kreisky in diesem Jahr sprechen. Er war es, der bis jetzt sogar seinen „natürlichen“ Widerpart in den eigenen Reihen, nämlich den ÖGB-Präsidenten Benya (denn dieser hat es mit einer sozialistischen Regierung ja nicht ganz leicht); „zähmen“‘ konnte. Und er versucht nun sogar, Baüernbund- äbgeordnete aus. der ÖVP „herauszubrechen“, während doch ein jeder weiß, wie besonders in der SPÖ die Klubdisziplin groß geschrieben wird.

Aber auch das ist Politik, und wenn es Kreisky damit gelingt, Gruppen und Parteien gegeneinander auszuspielen und weiter Zeit zu gewinnen, dann hat er zweifellos neue Beweise seines eminenten politischen Talentes erbracht.

Ob er damit der parlamentarischen Demokratie, ob er Österreich einen guten Dienst erweist, ist eine Frage, die zu stellen ist. Die zweite, ob ihm dabei die Mehrheit der Wähler folgt. Nachdem Kreisky die Bundespräsidentenwahl inzwischen zu einer Testwahl seiner Regierung erklärt und davon die weitere Marschroute insbesondere hinsichtlich einer vorzeitigen Neuwahl abhängig gemacht hat, wird man die Antwort auf diese zweite Frage am Abend des 25. April schon ziemlich genau wissen.

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