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Sadat auf dem Pulverfaß?

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„Er ist an der Regierung, aber noch lange nicht an der Macht!“ Diese Feststellung eines bei den Säuberungen in der zweiten Maihälfte entlassenen Beamten umreißt haargenau die unsichere Position des Regimes Anwar es-Sadat in Ägypten. „Es-Sadat-Pascha“ — so beschimpft ihn boshaft die fürs erste um die Machtteilhabe, doch nicht um ihre Zukunftshoffnungen geprellte intellektuelle Linke. Zweifellos tut sie ihm damit unrecht, denn der Bauernsohn aus einem Deltadorf kann sich auf eine lupenreinere proletarische Vergangenheit berufen als sie.

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„Er ist an der Regierung, aber noch lange nicht an der Macht!“ Diese Feststellung eines bei den Säuberungen in der zweiten Maihälfte entlassenen Beamten umreißt haargenau die unsichere Position des Regimes Anwar es-Sadat in Ägypten. „Es-Sadat-Pascha“ — so beschimpft ihn boshaft die fürs erste um die Machtteilhabe, doch nicht um ihre Zukunftshoffnungen geprellte intellektuelle Linke. Zweifellos tut sie ihm damit unrecht, denn der Bauernsohn aus einem Deltadorf kann sich auf eine lupenreinere proletarische Vergangenheit berufen als sie.

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Die Linke ist, langfristig, sein gefährlichster Gegner. Ihre führenden Köpfe befinden sich zwar im Gefängnis. Exvizepräsident Ali Sabri betreibt, nachdem er sich von seinem Herzanfall erholt hat, im Zuchthaus Abu Za’abal Tennis als Fitnesstraining. Exinnenminister Scharaui Goma’a soll sich die Pulsadern aufgeschnitten oder sogar Selbstmord begangen haben. ASU-Generalsekre- tär Mochsin Abu en-Nur, Expräsd- dentenberater Sami Scbaraf, Exkriegsminister Mohammed Fausi und eine Handvoll anderer Exminister warten im Gefängnis auf ihre möglicherweise niemals stattfindenden Prozesse — oder auf bessere Zeiten. Chalid Mohieddin, der berüchtigte „rote Kommodore“ und ehemalige Wortführer der nasserlsti- schen Linken, verschwand in der Versenkung.

Die fünf nacheinander, gegeneinander und manchmal auch miteinander gegründeten kommunistischen Parteien blieben immer einflußlose intellektuelle Zirkelchen. -Durch die Vertreibung aus der angeblich sechs Millionen Mitglieder zählenden Einheitspartei „Arabische Sozialistische Union“ (ASU) verloren ihre Kadermitglieder mindestens zeitweise das unerläßliche Organisationsfundament.

Es-Sadat darf sie trotzdem nicht unterschätzen. Von ihnen stammen unter anderem die seit dem „weißen Staatsstreich“ vom 13. Mai nicht nur in den Kairoer Arbeitervierteln, sondern auch in Alexandria und Port Said immer wieder auftauchenden Flugblätter. In ihnen heißt es, der Präsident betrachte sich nur als „Kronverweser“ der vor neunzehn Jahren gestürzten Dynastie Mohammed Ali, er wolle Faruks noch minderjährigem Sohn Achmed Fuad den Thron zurückgeben und die Baum- wollbarone des Deltagebietes rehabilitieren.

Diese Behauptungen genießen, so unsinnig sie sind, eine gewisse Popularität. Immerhin machte der Präsident einige Vermögensbeschlagnahmen rückgängig und modifizierte Landreformentscheidungen zugunsten der Grundeigentümer. Wenn diese Maßnahmen auch nur einige seiner engeren persönlichen Freunde begünstigten, geben sie doch Anlaß zu üblen Spekulationen. Das Volk haßt zwar die Diktatur und die Russen, wünscht aber keine Restauration.

Es-Sadat stößt allerdings nicht nur bei der von ihm vorübergehend entmachteten Linken auf unversöhnliche Feindschaft. Auf kürzere Sicht gefährlicher für ihn ist das Mißtrauen der „orthodoxen Nasseristen“. Der Präsident beruft sich zwar in allen öffentlichen Äußerungen auf den toten „Rais“, seine Politik ist jedoch offenkundig darauf angelegt, die Erinnerung an den großen Vor ganger zu verwischen. In den Amtsstuben verdrängte das Porträt eines ernst dreinblickenden Anwar es-Sadat inzwischen das optimistische Playboylächeln Gamal Abdel Nassers. Und die Kritik an der Geheimpolizei, dem Spitzelunwesen, dem Telephonabhören und der Postzensur trifft natürlich in erster Linie den toten Staatsgründer.

Einstweilen stützt sich der neue

Präsident auf sein durch Liberalisierungsversprechen erkauftes Massenprestige und auf die Armeeführung. Doch obwohl er im Hof des Innenministeriums persönlich einen Berg Abhörtonibänder verbrannte, obwohl er Meinungsfreiheit und Wahlen für die Einheitspartei versprach, obwohl sein Informationsminister, Exoberst Dr. Abdel Kadir Hatim, die Aufhebung der Vorzensur für Auslandspresseberichte verkündete, obwohl die Bürger kritische Witzchen reißen dürfen, ohne sich vorher furchtsam umzusehen, glaubt niemand so recht an die neuen Freiheiten. Man fürchtet, die alten Tonbänder könnten bald durch neue, die unzuverlässigen Geheimdienstbeamten durch zuverlässige ersetzt werden. Manche Anzeichen sprechen dafür. Briefe tragen nach wie vor den Zensurstempel, und man tut gut daran, am Telephon noch immer vorsichtig zu sein. Die Boabs, jene spezifisch ägyptische Mischung zwi-

sehen Hauswart und Aufpasser, registrieren weiterhin alles, was in den ihnen anvertrauten Häusern geschieht.

Das Regime wird, so glauben viele Leute, irgendwann die Schraube wieder anziehen. Der großen Masse ist das egal. Freiheit war am Nil immer nur die Freiheit einer dünnen Oberschicht. Unten interessierte man sich wenig für Telephongespräche, Korrespondenz mit Freunden im Ausland oder Pressefreiheit. Wichtig sind die Lebensmittelpreise, Bezugsquellen für billigen Brennstoff, Mie-

ten. Es-Sadat scheint das zu wissen. Er senkte als erstes die Preise für Fleisch und Schuhe, sorgte für ausreichende Gemüse- und Obstvorräte auf den Märkten und plant weitere Maßnahmen zur Steigerung der Inlandskaufkraft.

Die beiden Säulen seiner Herrschaft, Massen und Armee, gleichen allerdings zwei Pferden, die den Wagen, vor den sie gespannt sind, in entgegengesetzte Richtungen ziehen wollen. Die Ägypter folgen ihrem Staatschef hauptsächlich deshalb, weil er ihnen den Frieden versprochen hat. Sie wissen, daß ein neuer Krieg mit Israel nicht nur die zaghafte Liberalisierung stoppen, sondern sie auch um das versprochene „bessere Leben“ bringen würde. Die Armee aber kann keine solche Entwicklung brauchen, die sie früher oder später überflüssig machen müßte.

Wie groß dieses Dilemma 1st, zeigte Sadats letzte Rede. Er bot einerseits eine sechsmonatige Feuerpause an, drohte aber anderseits damit, er wolle eine Million Ägypter für die Befreiung der besetzten Gebiete opfern. Die Offiziere, deinen er das versprach, mögen das gern gehört haben, der Bevölkerung klang es schrill in den Ohren. Einen von beiden wird er enttäuschen müssen, die Armee oder die Bevölkerung. In diesem Augenblick könnte sich der Präsidentenstuhl in ein Pulverfaß verwandeln.

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