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Schnitzlers letzte Liebe
O uzanne Clauser ist von Geburt Wienerin. Zweisprachig aufgewachsen, lebt sie zeitweise in Paris. Jetzt, im Herbst 1928, ist sie wieder in der Heimat. Die Tochter des Bankiers Wilhelm Ritter von Adler ist gerade dreißig geworden, lebt in gutbürgerlicher Ehe, Sohn Hubert, das ältere der beiden Kinder, kommt in die Schule, da hat sie endlich auch wieder mehr Zeit für sich selbst.
• Seit dem französischen Staatsexamen, bei dem unter anderem Arthur Schnitzlers “Liebelei“ zum Prüfungsstoff zählte, hat sie nicht aufgehört, sich für diesen Autor zu interessieren. So leidenschaftlich schwärmt sie ihrem Mann von ihm vor, daß dieser ihr zur Geburt des ersten Kindes die gerade erschienene neunbändige Schnitzler-Gesamtausgabe schenkt. Sie liest sie von der ersten bis zur letzten Zeile. Jetzt fehlt ihr nur noch eines: Mit der französischen Sprache gleichermaßen vertraut wie mit der deutschen, würde sie “ihren“ Dichter gern auch auf französisch lesen.
Einiges ist übersetzt, vieles nicht. “Fräulein Else“ zum Beispiel. Der Gedanke, sich in diesem Genre zu versuchen, elektrisiert Suzanne
Clauser. Eine Freundin, der sie ihren Wunsch anvertraut, rät ihr, dem Dichter zu schreiben; zwei Tage später hat sie Arthur Schnitzlers Antwort in der Hand. Er teilt ihr seine Telefonnummer mit, sie möge ihn anrufen, um ein Treffen mit ihm zu vereinbaren.
Bevor sie zum Telefonhörer greift, fährt ihr der Schreck in die Glieder: Da erhalte ich die Chance, einem großen Dichter gegenüberzutreten, und wie stehe ich vor ihm da? Mit leeren Händen. Nein, das geht nicht. Suzanne Clauser schiebt also den Termin um einige Tage hinaus und benützt die Zwischenzeit dazu, eine Probeübersetzung anzufertigen. Sie nimmt Schnitzlers Novellenband zur Hand und wählt das kürzeste derStückeaus: “Blumen“. MitBlei- stift kritzelt sie ihre französische Version auf Briefpapier acht Blätter, beidseitig beschrieben. Solcherart ausgerüstet, macht sie sich zum vereinbarten Termin auf den Weg ins Cottage: Seit achtzehn Jahren bewohnt Dr. Arthur Schnitzler die Villa in der Stemwartestraße 71.
Suzanne Clauser hat Lampenfieber wie seit Jahren nicht mehr Die paar Schritte durch den Vorgarten und über die Treppe in den zweiten Stock, wo Schnitzler sie in seinem Arbeitszimmer erwartet, werden ihr, zur Qual. Dann aber steht sie dem verehrten Meister gegenüber Sechsundsechzig ist er, von mittelgroßem Wuchs, hohe Stirn, blaue Augen, graues Haar, weißer Bart. Zwei Finger im Gilet, empfängt er die um sechsunddreißig Jahre Jüngere aufrecht stehend, mustert sie mit durchdringendem Blick.
“Sie wollen mich also übersetzen — das ist sehr freundlich von Ihnen. Und was haben Sie bisher getan?
Nichts Besonderes, halt das in ihren Kreisen Übliche: die Tochter aus gutem Hause, die eine standesgemäße Schulbildung erworben hat, die verheiratet und Mutter zweier Kinder ist, die ihrem Haushalt vorsteht, die gerne Bridge spielt und viel best. Vor allem Schnitzler Die Übersetzungsprobe, die sie mitgebracht hat, kann sie ihm unmöglich* aushändigen: Das Geschreibsel auf den acht Briefpapierbögen ist nur für sie selbst entzifferbar. Ob sie es ihm vielleicht vorlesen darf?
Aber gern. Er bietet seiner Besucherin einen Sessel an, nimmt vis ä vis von ihr Platz und hört ihr auf merksam zu. Es scheint ihm zu gefallen: Der “geschäftliche“ Teil der Unterredung endet damit, daß er ihr die Erlaubnis erteilt, alle Werke, die noch “frei“ sind, ins Französische zu übertragen und ihm zur Appro- bierung vorzulegen.
Dann wechselt man das Thema, kommt auf Privates zu sprechen: Suzanne hat vor kurzem ihren Vater verloren, ist in Trauer. Denn sie hat diesen Vater sehr geliebt. Schnitzler zeigt sich tief ergriffen: Er ist in der gleichen Situation—nur umgekehrt. Vor dreieinhalb Monaten ist die Sache mit Lili passiert, hat er seine vergötterte Tochter verloren: Die Neunzehnjährige hat sich in Venedig umgebracht. Wegen nichts und wieder nichts: Nach einem belanglosen Streit mit ihrem Mann, einem italienischen Hauptmann, nimmt sie eine alte österreichische Armeepistole, die dieser Arnoldo Capellini aus dem Ersten Weltkrieg heimgebracht hat, von der Wand, läuft damit ins Badezimmer und drückt ab. Sie will ihren Mann nur erschrecken, denkt keinen Augenblick daran, daß die Waffe geladen und entsichert sein könnte: Die Kugel dringt in ihren Körper ein, und da sie ver rostet ist, löst sie eine Sepsis aus, die zum Tode führt.
Es tut beiden gut, sich den Schmerz von der Seele zu reden. Ob sich hier bereits das erste Band zwischen Arthur Schnitzler und Suzanne Clauser knüpft? Ist er nicht — im Allerinnersten — seit langem ein einsamer Mann? Vor sieben Jahren ist die Ehe mit Olga Schnitzler geschieden worden, hartnäckig widersetzt er sich der von ihr mit allen Mitteln betriebenen Wiedervereinigung. Dann Sohn Heinrich, das einzige, ihm verbliebene Kind: Er ist beim Theater gelandet, ist weit weg in Berlin. Und die Frau, die seit fünf Jahren als seine offizielle Gefährtin gilt, die frühverwitwete Schriftstellerin Clara Pol- laczek, ist zwar ständig um ihn, doch bleiben ihre Gefühle imerwidert. Die Vorwürfe der sich zu Recht zurückgesetzt Fühlenden nerven den alternden Dichter — sollte ihm noch einmal das Glück einer neuen tiefen Beziehung beschieden sein, wäre er dafür zu keiner Zeit reifer als jetzt.
Aus dem Band ‘Eine liebe In Vien*, der AmnžrM im Verlag Niederösterreichisches Pressehaus erscheint
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