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Verfall und neues Hoffen

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„Zur Lage des Glaubens“ hatte Kardinal Ratzinger im Vorjahr in einer italienischen Zeitschrift Stellung genommen. Jetzt erschienen seine Ausführungen in deutsch: Reaktionär - war eine oft gehörte Kritik. Die folgenden Auszüge zeigen Ratzingers Sorgen mit der „nachkonzi-liaren“ Entwicklung - aber auch eine differenzierte Sicht.

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„Zur Lage des Glaubens“ hatte Kardinal Ratzinger im Vorjahr in einer italienischen Zeitschrift Stellung genommen. Jetzt erschienen seine Ausführungen in deutsch: Reaktionär - war eine oft gehörte Kritik. Die folgenden Auszüge zeigen Ratzingers Sorgen mit der „nachkonzi-liaren“ Entwicklung - aber auch eine differenzierte Sicht.

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Es ist unbestreitbar, daß die letzten zehn Jahre für die katholische Kirche äußerst negativ verlaufen sind. Die Entwicklungen seit dem Konzil scheinen in eklatantem Widerspruch zu den Erwartungen aller, angefangen von Johannes XXIII. und Paul VI., zu stehen. Die Christen sind von neuem eine Minderheit, mehr als sie es seit der ausgehenden Antike je gewesen sind.

Was die Päpste und die Konzilsväter erwarteten, war eine neue katholische Einheit; statt dessen ist man auf eine Uneinigkeit zugesteuert, die — um die Worte von Paul VI. zu gebrauchen — von der Selbstkritik zur Selbstzerstörung überzugehen schien. Man hat sich eine Begeisterung erhofft, und man landete dagegen zu oft im Überdruß und in der Entmutigung. Man hatte sich einen Schritt nach vorn erwartet, und man fand sich einem fortschreitenden Prozeß des Verfalls gegenüber, der sich weitgehend im Zeichen der Berufung auf einen angeblichen „Geist des Konzils“ abgespielt und dieses immer mehr diskreditiert hat...

Echte Tradition

Verteidigung der wahren Tradition der Kirche heute heißt Verteidigung des Konzils. Es ist auch unsere Schuld, wenn wir bisweilen (sowohl nach „rechts“ als auch nach „links“) Anlaß gegeben haben zu denken, das II. Vatikanum sei ein „Bruch“, ein Verlassen der Tradition gewesen.

Hingegen gibt es eine Kontinuität, die weder Rückkehr ins Vergangene noch Flucht nach vorn, weder anachronistische Sehnsüchte noch ungerechtfertigte

Ungeduld erlaubt. Und wir müssen dem Heute der Kirche treu bleiben, nicht dem Gestern und dem Morgen: Und dieses Heute der Kirche sind die authentischen Dokumente des II. Vatika-nums...

Es gibt keine „vor- oder nach“-konziliare Kirche: Es gibt nur eine und eine einzige Kirche, die auf dem Weg zum Herrn hin unterwegs ist...

Der Satan

Was weniger tief sehende Theologen auch immer dazu sagen mögen, der Teufel ist für den christlichen Glauben eine rätselhafte, aber reale, personale und nicht bloß symbolische Präsenz. Und er ist eine mächtige Wirklichkeit („der Fürst dieser Welt“, wie das Neue Testament, das immer und immer wieder auf seine Existenz aufmerksam macht, ihn nennt), eine unheilvolle, übermenschliche Freiheit, die sich gegen die Freiheit Gottes richtet...

Der Mensch hat allein nicht die Kraft, sich dem Satan zu widersetzen; aber der Teufel ist kein zweiter Gott, und vereint mit Jesus haben wir die Gewißheit, ihn zu besiegen...

Keine Demokratie

Wenn die Kirche in der Tat unsere Kirche ist, wenn die Kirche nur wir sind, wenn ihre Strukturen nicht die von Christus gewollten sind, dann versteht man auch nicht mehr die Existenz einer vom Herrn selbst eingesetzten Hierarchie als Dienst an den Gläubigen. Man lehnt die Vorstellung einer von Gott gewollten Autorität ab, einer Autorität also, die ihre Legitimierung in Gott hat und nicht — wie es in den politischen Strukturen geschieht — im Konsens der Mehrheit der Mitglieder.

Aber die Kirche Christi ist keine Partei, keine Vereinigung,“ kein Club; ihre tiefe unaufhebbare Struktur ist nicht demokratisch, sondern sakramental, folglich hierarchisch. .

Mut zum Widerspruch

Die Welt empört sich, wenn Sünde und Gnade beim Namen genannt werden. Nach der Phase des wahllosen „Sich-Öffnens“ ist es an der Zeit, daß sich der Christ wieder bewußt wird, einer Minderheit anzugehören und oft zu dem in Kontrast zu stehen, was... das Neue Testament — und gewiß nicht in positivem Sinne — „den Geist der Welt“ nennt.

Es ist an der Zeit, den Mut zum Nonkonformismus wiederzuent-decken, die Fähigkeit, sich entgegenzustellen, auf die vielfältigen Tendenzen der umliegenden Kultur hinzuweisen und zugleich auf eine gewisse euphorische nach-konziliare Solidarität zu verzichten.

Es gibt die Wahrheit

In einer Welt, in der im Grunde auch viele Gläubige vom Skeptizismus erfaßt sind, erscheint die Uberzeugung der Kirche als skandalös, daß es eine Wahrheit gibt und daß diese eine Wahrheit als solche erkannt, ausgesprochen und innerhalb gewisser Grenzen auch klar definiert werden kann. Sie wird auch von vielen Katholiken, die das Wesen der Kirche aus dem Blick verloren haben, als anstößig empfunden.

Die Kirche ist jedoch nicht bloß eine menschliche Organisation, sondern sie hat ein Depositum zu verwalten, das nicht ihr gehört, für dessen Verkündigung und Weitergabe sie aber durch ein Lehramt bürgt, das es in geeigneter Weise den Menschen aller Zeiten nahebringt.

Die Bibel für jedermann

Durch die historisch-kritische Forschung ist die Schrift wieder ein offenes Buch geworden, aber auch ein verschlossenes. Ein offenes Buch: Dank der Arbeit der Exegese nehmen wir das Wort der Bibel in neuer Weise in seiner historischen Ursprünglichkeit wahr ... Aber die Heilige Schrift ist auch wieder zu einem verschlossenen Buch geworden: zum Objekt der Experten; ein Laie, aber auch der Fachtheologe, der nicht Exeget ist, kann es nicht mehr wagen, darüber zu sprechen ...

Jeder Katholik muß den Mut haben zu glauben, daß sein Glaube (in Gemeinschaft mit dem der Kirche) jedes „neue Lehramt“ der Experten, der Intellektuellen überragt...

Neue Hoffnung

Was gerade auch inmitten der Krise der Kirche in der westlichen Welt hoffnungsvoll stimmt, ist das Aufbrechen neuer Bewegungen, die niemand geplant und die niemand gerufen hat, sondern die einfach aus der inneren Vitalität des Glaubens selbst kommen. In ihnen zeichnet sich - sehr leise wohl — doch so etwas wie eine pf ingstliche Stunde in der Kirche ab. Ich denke etwa an die Charismatische Bewegung, an Neokate-chumenat, Cursillo, Fokolare, Communione e Liberazione usw....

Ich begegne jetzt in zunehmendem Maß Gruppen junger Menschen, bei denen eine unverkrampfte Entscheidung für den ganzen Glauben der Kirche da ist, die ihn voll leben wollen und die einen großen missionarischen Elan in sich tragen. Bei aller Intensität des Gebetslebens ist nichts von Flucht in Innerlichkeit oder von Rückzug ins Private gegeben ... Die Freude am Glauben, die man hier spürt, hat etwas Ansteckendes an sich.

Wir brauchen Heilige

Das Heil kommt für die Kirche aus ihrem Inneren, aber damit ist keineswegs gesagt, daß es aus den Dekreten der Hierarchie kommt. Ob das II. Vatikanum und seine Ergebnisse einmal als eine lichtvolle Periode der Kirchengeschichte werden gelten können, wird von allen Katholiken abhängen, die dazu gerufen sind, ihm Leben zu geben. Wie Johannes Paul II. sagte: „Die Kirche von heute braucht keine neuen Reformer. Die Kirche braucht neue Heilige.“

ZUR LAGE DES GLAUBENS. Von Joseph Kardinal Ratzinger, Neue Stadt, München 1985. 215 Seiten.

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