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Zur Geschichte der Heilkunde

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Einige Neuerscheinungen auf dem Gebiete der Geschichte der Medizin geben Kunde davon, daß diese Wissenschaft neuerdings stärker in das Blickfeld des Interesses getreten ist, als es durch Jahrzehnte hindurch der Fall „war. Die Tatsache kann mit Befriedigung festgestellt werden. Die Vernachlässigung der Geschichte der Medizin ist vom Ref. immer als beklagenswert empfunden worden; Ref. hat stets den Standpunkt vertreten, daß man, um eine Wissenschaft richtig zu verstehen, ihre Geschichte studieren muß. Freilich ist auch in der Geschichte der Medizin eine Gefahr, die im Grunde jeden Versuch einer Geistesgeschichte innewohnt: daß das, was der Geschichtschreiber den „Geist der Zeiten" heißt, im Grunde nur sein eigener Geist ist „in dem die Zeiten sich bespiegeln". Ganz vermeidbar ist diese Gefahr nie, selbst wenn der Historiker noch so redlich nach Objektivität strebt. Dies zeigen auch drei neuere Werke, von denen wir zu berichten haben.

Heilkunde im Wandel der Zeit. Von Otto Chiari. Rascher-Verlag, Zürich. 249 Seiten. Preis 16.30 DM.

Der Verfasser — Professor der Chirurgie — gibt in seinem Buche ein gut fundiertes, leicht lesbares und ansprechendes Bild von der Entwicklung der Heilkunde von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Er stellt einleitend fest, daß an zahlreichen prähistorischen Schädeln typische Trepanationsöffnungen gefunden worden sind. Aus-

gehend von den Aerzteschulen des Altertums (Priesterärzte in Babylon und Aegypten; As- klepiadenschule in Kos) würdigt er die Leistung des Hippokrates; sehr anschaulich schildert er die Medizinschulen des Mittelalters, wobei gelegentlich ein Seitenhieb auf den „scholastischen" Lehrbetrieb abfällt. Der Gestalt des Paracelsus steht Verf. nicht so unkritisch gegenüber, wie es jetzt Mode ist. Was er von der Chirurgie der alten Zeiten berichtet, ist mehr abschreckend als anziehend; dafür erscheinen die Großtaten der modernen Medizin in um so hellerem Lichte, wie auf dem Umschlagbild der ganz in Weiß gekleidete moderne Chirurg neben dem schwarz vermummten Pestarzt des Mittelalters.

Daß das Literaturverzeichnis mangelhaft ist, gibt Verf. selbst zu. Im ganzen ist. das Werk als eine erfreuliche Neuerscheinung zu beurteilen.

Die Entdecker des Menschen. Von Hippokrates bis Pawlow. Von Hugo Glaser. Schönbrunn- Verlag, Wien. Mit zahlreichen Abbildungen. 288 Seiten.

Der Verfasser, ein bekannter Wiener Arzt, gibt in diesem Buche einen Ueberblick über die Medizingeschichte „von Hippokrates bis Pawlow", wobei er der vorhippokratischen Medizin ein eigenes Kapitel widmet. Daß die Medizin als Wissenschaft mit Hippokrates beginnt, wird unbestritten anerkannt. Nicht ganz so unbestritten kann es bleiben, wenn Verf. erklärt: „Mit Pawlow beginnt die neue Zeit." Selbstverständlich steht Pawlow, dessen Größe und Bedeutung niemand verringern will, auf den Schultern seiner Lehrer und Vorläufer, von denen Verf. nut Setschenow erwähnt. Zweifellos sind die berühmten Experimente von Pawlow, auf denen sich eine ganze Theorie der „Reflexiologie" (Bechterew) aufbaute, welche das gesamte Seelenleben nur in eine Summe von „bedingten Reflexen" auflöst, von großem heuristischen Wert gewesen. Daß aber mit Pawlow wirklich „die neue Zeit beginnt", kann nur dann behauptet werden, wenn man annimmt, der wissenschaftliche Materialismus sei das letzte Wort der Erkenntnis. Andernfalls kann man in Pawlow nur eine letzte abschließende Größe dieser Aera sehen. Mit ihm schien die Psychologie endgültig zu einem Teilgebiet der Physiologie geworden zu sein; wie Verf. auf p. 154 den Ausspruch von Johannes Müller zitiert: „nemo psychologus nisi physio- logus" und hinzusetzt „was Pawlow viele Jahre später erwies". Wie weit sich seither die Psychologie gerade in geisteswissenschaftlicher Richtung entwickelt und den Materialismus abgestreift hat, zeigt u. a. Frankl. Zurückgreifend sei erwähnt, daß Paracelsus (p. 63 ff.) als der große Reformator der Medizin gefeiert wird. Was er de facto reformiert hat, wird nicht näher ausgeführt: nur daß er die lateinische Sprache in seinen Vorlesungen abgeschafft hat. Daß er sich um die Anatomie überhaupt nicht gekümmert hat, gibt Verf. zu. Dadurch, daß Paracelsus mit der Geste eines „Lutberus medicinae" die Bücher von Galen und Avicenna öffentlich verbrannt hat, ist er noch kein Reformator gewesen.

Verschiedene Kapitel, wie z. B. „Hormone regieren das Leben", „Das Blut und sein Motor" verraten eine zu mechanistische Auffassung. Im

Schlußkapitel „Der Mensch der Zukunft" äußert Verf. die optimistische Hoffnung, es werde der Wissenschaft gelingen, das menschliche Leben auf 150 Jahre zu verlängern. Wir fragen skeptisch: Cui bono?

Heilkunde. Eine Problemgeschichte der Medizin. Von Werner Leibbrand. Verlag Karl Alber, Freiburg-München 1953. Mit 23 Tafelbeilagen. 437 Seiten. Preis 25 DM.

Der Verfasser — Professor der Geschichte der Medizin (Erlangen, jetzt München) — gibt in seinem neuen Werk eine „Problemgeschichte"der Medizin; d. h. er zeigt, wie wesentlich die Zeitfragen in der Medizin von den jeweiligen allgemeinen geistigen Strömungen der Zeit beeinflußt sind. Das ist sehr verdienstvoll, weil diese Aufgabe in den bisherigen wissenschaftlichen Werken der Medicohistorik zuwenig erkannt worden ist; insofern füllt das Werk eine Lücke aus.

Sehr wertvoll ist, daß es in Form einer „Dokumentation" mehr die Aerzte vergangener Zeiten aus ihren Werken zu uns sprechen läßt, als daß der Verf. selbst das Wort ergreift. Damit gewinnt die Darstellung sehr an objektiv-historischem Wert,

Seine Würdigung des Aristoteles gibt diesem um das zuwenig, was er dem Paracelsus zuviel gibt. Peinlich berühren die auf p. 213 z. T. wiedergegebenen maßlosen Beschimpfungen des Aristoteles durch Paracelsus. Diese zeigen nur, daß eben jeder dem Geist gleicht, den er begreift, und daß jeder nur den Geist begreift, dem er gleicht.

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